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(New York) – Die extremistische Gruppe Islamischer Staat, kurz IS, hat systematische Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Gewalt an jesidischen Frauen und Mädchen im Nordirak begangen, so Human Rights Watch. Im Januar und Februar 2015 führte Human Rights Watch Recherchen in der Stadt Dohuk durch, interviewte 20 Frauen und Mädchen, die aus IS-Gefangenschaft fliehen konnten, und überprüfte Stellungnahmen des IS zu dem Thema.

Human Rights Watch dokumentiert den systematischen Einsatz von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, sexueller Sklaverei und Zwangsverheiratung durch IS-Truppen. Diese Handlungen stellen Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Viele der Frauen und Mädchen werden noch immer vermisst. Die Überlebenden, die sich jetzt in der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan befinden, benötigen psychosoziale Unterstützung und andere Hilfe.

„IS-Truppen haben organisierte Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe und andere grauenvolle Verbrechen gegen jesidische Frauen und Mädchen verübt“, so Liesl Gerntholtz, Leiterin der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch. „Diejenigen, die fliehen konnten, müssen behandelt werden, um das unvorstellbare Trauma, das sie erlitten haben, zu bewältigen.“

Kurdischen Offiziellen und Vertretern der kurdischen Gemeinschaft zufolge nahmen IS-Truppen im August 2014 in der nordirakischen Provinz Ninive mehrere Tausend jesidische Zivilisten gefangen. Augenzeugen berichteten, dass junge Frauen und heranwachsende Mädchen systematisch von ihren Familien und anderen Gefangenen getrennt und innerhalb Iraks und Syriens von einem Ort zum anderen gebracht wurden.

Die elf Frauen und neun Mädchen, die von Human Rights Watch interviewt wurden, waren zwischen September 2014 und Januar 2015 aus der Gewalt des IS geflohen. Die Hälfte von ihnen, darunter auch zwei Mädchen im Alter von zwölf Jahren, berichteten, dass sie vergewaltigt wurden – zum Teil mehrfach und von verschiedenen IS-Kämpfern. Nahezu alle berichteten, sie seien zwangsverheiratet und – in einigen Fällen wiederholt – verkauft oder „verschenkt“ worden. Sie mussten außerdem zusehen, wie andere Gefangene vor ihren Augen missbraucht wurden.

Human Rights Watch befragte auch mehr als ein Dutzend internationale und lokale Organisationen, Mitarbeiter des Gesundheitswesens, kurdische Offizielle, Vertreter der kurdischen Gemeinschaft und Aktivisten, die diese Aussagen bestätigten. Eine in Dohuk niedergelassene Ärztin, die Überlebende behandelt, sagte gegenüber Human Rights Watch, dass von den 105 Frauen und Mädchen, die sie untersucht hat, insgesamt 70 offensichtlich in IS-Gefangenschaft vergewaltigt worden sind.

Alle interviewten Frauen und Mädchen wiesen Zeichen von akuter psychischer Belastung auf. Viele sind weiterhin von ihren Verwandten und Familien getrennt, weil diese noch immer gefangen gehalten werden oder von IS-Truppen getötet wurden. Einige der Befragten berichteten, dass sie in Gefangenschaft unmittelbar Zeugen von Selbstmordversuchen wurden oder selbst versucht hatten, sich das Leben zu nehmen, um einer Vergewaltigung, Zwangsverheiratung oder Zwangskonvertierung zu entgehen.

Im Oktober 2014 bestätigte der IS in seiner Publikation Dabiq, dass festgehaltene jesidische Frauen und Mädchen unter den Kämpfern als „Kriegsbeute“ aufgeteilt wurden. Der IS rechtfertigt sexuelle Gewalt mit der Behauptung, der Islam erlaube es, mit nicht-muslimischen „Sklavinnen“, einschließlich Mädchen, Sex zu haben, sie zu schlagen und zu verkaufen. Diese Äußerungen sind ein weiterer Beleg für diese weitverbreitete Praxis und das systematische Vorgehen des IS, so Human Rights Watch.

Befehlshaber des IS sollen alle festgehaltenen Zivilpersonen unverzüglich freilassen, Kinder wieder mit ihren Familien vereinen und Zwangsehen und -konvertierungen ein Ende setzen. Sie sollen alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Gewalt durch IS-Kämpfer zu beenden. Internationale und lokale Akteure, die über entsprechenden Einfluss verfügen, sollen den IS drängen, diese Schritte umzusetzen.

Die kurdische Regionalregierung hat 2014 mehr als 637.000 Vertriebene allein aus der Provinz Ninive aufgenommen und unternahm erhebliche Anstrengungen, um jesidische Frauen und Mädchen, die aus der Gefangenschaft des IS fliehen konnten, medizinisch zu versorgen. Es gab aber auch Defizite bei der Gesundheitsversorgung: So gaben einige der Befragten an, dass sie ärztlich untersucht wurden, sie aber weder über den Grund der Untersuchung noch über die Ergebnisse informiert worden sind.

Der Generaldirektor für Gesundheit in Dohuk sagte gegenüber Human Rights Watch, die lokalen Behörden hätten weniger als 150 Frauen und Mädchen identifiziert, die aus der Gewalt des IS fliehen konnten, und nur etwa einhundert seien medizinisch versorgt worden. Der Direktion für jesidische Angelegenheiten der kurdischen Regionalregierung zufolge waren zum 15. März 2015 insgesamt 974 Jesiden aus der Gewalt des IS geflohen, darunter 513 Frauen und 304 Kinder.

Die Frauen und Mädchen benötigen eine Traumabehandlung und eine langfristige psychologische Betreuung, so Human Rights Watch. Nicht alle hatten unmittelbaren Zugang zur Behandlung von Verletzungen, zu Notverhütung, einem sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch, einschließlich des Zugangs zu Maßnahmen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit, sowie zu psychosozialer Unterstützung.

Die kurdische Regionalregierung soll darauf hinarbeiten, die Defizite bei der medizinischen Versorgung und psychosozialen Unterstützung für jesidische Mädchen und Frauen zu beseitigen, und sicherstellen, dass Ärzte die Überlebenden über die Untersuchungsergebnisse und die ihnen zur Verfügung stehenden Leistungen informieren, so Human Rights Watch. Außerdem soll die kurdische Regionalregierung einen Plan zur Unterstützung von aus Vergewaltigungen hervorgegangenen Kindern entwerfen, um für sie und ihre Mütter eine angemessene Betreuung und ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Darüber hinaus soll die kurdische Regionalregierung in berufsqualifizierende Ausbildungen und Programme zur Sicherung des Lebensunterhalts investieren, um den Frauen die Wiedereingliederung in den Alltag zu erleichtern.

„Die jesidischen Frauen und Mädchen, die aus der Gewalt des IS fliehen konnten, sind weiterhin mit enormen Herausforderungen und mit ihren traumatischen Erfahrungen konfrontiert“, so Gerntholtz. „Sie benötigen dringend Hilfe und Unterstützung, um wieder gesund zu werden und ihr Leben weiterzuleben.“
 

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