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(London, 27. März 2017) – Anschläge der Taliban und anderer militanter Gruppen haben katastrophale Folgen für die Bildung pakistanischer Kinder, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht am Vortag der zweiten internationalen Konferenz über sichere Schulen in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.

Das pakistanische Bildungswesen steht vor gewaltigen Herausforderungen, schätzungsweise 25 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule. Der Bericht enthält Zeugenaussagen darüber, wie Gewaltakte militanter Gruppen die Bildung Hunderttausender Kinder beeinträchtigen, besonders betroffen sind Mädchen. Zudem dokumentiert der Bericht die militärische Nutzung von Bildungsinstitutionen.

„Die Taliban und andere militante Gruppen haben wiederholt schreckliche Angriffe auf pakistanische Schulen verübt, die das Leben und die Bildung der Schüler bedrohen“, so Bede Sheppard, stellvertretender Leiter der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Viele dieser dreisten Angriffe gehen darauf zurück, dass die Behörden militante Gruppen zu oft schützen oder nicht angemessen verfolgen, und das muss sich ändern.”

Die pakistanische Regierung soll unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um Schulen sicherer zu machen und die Verantwortlichen für Angriffe gegen Schulen, Schüler und Lehrer in fairen Verfahren zur Rechenschaft zu ziehen.

Der 71-seitige Bericht „Dreams Turned into Nightmares: Attacks on Students, Teachers, and Schools in Pakistan“ basiert auf 48 Interviews mit Lehrern, Schülern, Eltern und Angestellten im Bildungswesen in den pakistanischen Provinzen Punjab, Sindh und Khyber Pakhtunkhwa (KP). Er dokumentiert Anschläge militanter Gruppen im Zeitraum Januar 2007 bis Oktober 2016, bei denen Schulgebäude zerstört wurden und Lehrer und Schüler in die Schusslinie gerieten. Diese Vorfälle verängstigten viele Eltern so sehr, dass sie sich entschieden, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken. Die Angriffe richteten sich oft gezielt gegen Schülerinnen, ihre Lehrerinnen und Schulen und damit vor allem gegen das Recht von Mädchen auf Bildung. Darüber hinaus untersucht der Bericht die Besetzung von Bildungsinstitutionen durch Sicherheitskräfte, politische und kriminelle Gruppierungen.

Militante islamistische Gruppen, darunter die Taliban, Lashkar-e-Jhangvi und ihre Verbündeten, greifen in Pakistan Schulen und Universitäten an, um Intoleranz und Ausschlüsse zu fördern, Symbole der Regierung zu beschädigen und Mädchen aus den Schulen zu vertreiben. Ein Taliban-Kommandant, der sich zum Anschlag auf die Bacha Khan-Universität in KP im Januar 2016 bekannte, sagte: „Wir werden weiter Schulen, Hochschulen und Universitäten überall in Pakistan angreifen, denn sie sind die Brutstätten der Abtrünnigen.“

Nachdem die Taliban im Jahr 2007 große Teile des Swat-Tals in KP einnahm, begann die Gruppe, gezielt und gewaltsam gegen die Schulbildung von Mädchen vorzugehen. Mehr als 900 Mädchenschulen mussten schließen und mehr als 120.000 Mädchen die Schule abbrechen. Mehr als 8.000 Lehrerinnen verloren ihre Arbeit. Für viele Mädchen endete damit ihre Schulbildung. Sie kehrten auch dann nicht in die Schulen zurück, nachdem die pakistanische Regierung die Taliban vertrieben hatte.

Die pakistanische Regierung sammelt keine spezifischen Daten über die Zahl der Angriffe auf Schulen und Universitäten und die Zahl der bei diesen Angriffen getöteten und verletzten Menschen. Allerdings hat die Global Terrorism Database 867 Anschläge auf pakistanische Bildungseinrichtungen im Zeitraum 2007 und 2015 dokumentiert, bei denen 392 Menschen starben und 724 verletzt wurden. Der Global Coalition to Protect Education zufolge wurden allein zwischen 2009 und 2012 mindestens 838 Angriffe auf Schulen verübt, bei denen Hunderte massiv beschädigt wurden. Im Dezember 2015 berichtete das Ministerium für Länder und Grenzregionen (SAFRON), dass im Jahr 2015 360 Schulen in drei der sieben Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (Federally Administered Tribal Areas, FATA) zerstört wurden.

Dass die Regierung keine konsistenten und transparenten, landesweiten Daten über solche Angriffe erhebt, wirft Fragen darüber auf, wie sie die Reparatur der beschädigten Schulen zu beaufsichtigen gedenkt, wie sie Trends identifiziert, die Aufschluss über angemessene Schutzmaßnahmen geben können, und wie sie die Verantwortlichen ermittelt und verfolgt.

Internationale Aufmerksamkeit erhielt das bedrohte pakistanische Bildungswesen bei den Angriffen auf die spätere Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai am 9. Oktober 2012 und auf die Army Public School in Peschawar am 16. Dezember 2014. Nach dem Terroranschlag von Peschawar, bei dem 135 Kinder starben, verkündete Premierminister Nawaz Sharif einen 20-Punkte-Aktionsplan, um gezielt und umfassend gegen den Terrorismus vorzugehen – aber keiner der 20 Punkte bezog sich auf Schüler oder das Bildungswesen.

In einigen Gebieten nutzten Regierungskräfte Bildungseinrichtung, darunter sowohl Schulen als auch Hochschulen, als temporäre oder dauerhafte Unterkünfte oder Militärbasen. Wenn Bildungseinrichtungen zu militärischen Zwecken genutzt werden, erhöht das die Anschlagsgefahr deutlich. Die Regierung soll deutlich und öffentlich anordnen, dass die pakistanischen Sicherheitskräfte die militärische Nutzung von Schulen einschränken.

Weiterhin soll Pakistan ein umfassendes Programm entwickeln, um Schüler, besonders Mädchen, Lehrer, Schulen und Universitäten vor Angriffen und militärischer Nutzung zu schützen. Alle relevanten Ministerien auf nationaler und lokaler Ebene sollen an der Umsetzung dieser Strategie beteiligt werden.

Bislang ist es vor allem den Provinz-Regierungen überlassen, die Sicherheit von Schulen zu gewährleisten. Allerdings tun sie das nur sporadisch und uneinheitlich und berücksichtigen kaum, dass die Schulbildung von Mädchen besonders geschützt werden muss. Meistens wurde die Verantwortung dafür, die Sicherheit zu verbessern und aufrecht zu erhalten, an die Schulverwaltungen abgeben. Das hat die Not und das allgemeine Chaos verschlimmert. In manchen Fällen wurden Strafverfahren gegen Lehrer und Schulleiter eingeleitet, weil sie keine Sicherheitsvorkehrungen ergriffen haben.

Trotz Hunderter Angriffe auf Lehrer, Schüler und Bildungseinrichtungen hat die pakistanische Regierung die Täter in den meisten Fällen nicht zur Verantwortung gezogen. Diese Versäumnisse rückten im Juni 2015 ins Rampenlicht, als bekannt wurde, dass acht der zehn Personen freigesprochen wurden, die wegen des Angriffs auf Malala Yousafzai angeklagt waren und vor Gericht ihre Beteiligung gestanden hatten.

Die pakistanische Zentralregierung soll gemeinsam mit den Provinzbehörden einen Mechanismus entwickeln, um rasch auf Anschläge gegen Schulen reagieren zu können. Insbesondere sollen die Einrichtungen schnell repariert oder neu aufgebaut und zerstörte Unterrichtsmaterialien ersetzt werden, so dass die Schüler schnellstmöglich wieder zum Unterricht gehen können. Während der Wiederaufbauarbeiten sollen die Schüler alternative Angebote erhalten, damit sie ihre Schulbildung fortsetzen können. Wenn nötig sollen sie auch psychosoziale Unterstützung erhalten.

Weiterhin soll Pakistan die Deklaration zum Schutz von Schulen unterschreiben, ein nicht-bindendes, politisches Übereinkommen, dem Staaten sich seit einer internationalen Konferenz in der norwegischen Hauptstadt Oslo im Mai 2015 anschließen können. Wenn Regierungen diese Erklärung unterstützen, dann sagen sie zu, dass sie den Zugang zur Bildung wiederherstellen, wenn Schulen angegriffen werden. Sie sollen Maßnahmen dagegen ergreifen, dass Schüler, Lehrer und Schulen überhaupt angegriffen werden. Mögliche Täter sollen von solchen Anschlägen abgeschreckt werden, indem Verbrechen im Zusammenhang mit Schulen untersucht und strafrechtlich verfolgt werden. Außerdem soll die militärische Nutzung von Schulen minimiert werden, um diese nicht zu Angriffszielen zu machen.

„Die pakistanische Regierung soll alles in ihrer Macht stehende tun, um zukünftige Angriffe auf das Bildungswesen zu verhindern, angefangen damit, dass sie die Sicherheit an Schulen verbessert und der Öffentlichkeit verlässliche Informationen über Gefahren zur Verfügung stellt“, so Sheppard. „Angriffe auf die Bildung schaden nicht nur den unmittelbar betroffenen Schülern und Familien. Die negativen Langzeitfolgen für die pakistanische Gesellschaft können wir noch gar nicht absehen.“

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