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Luftaufnahme eines überfüllten Boots mit Migranten, aufgenommen am 10. Mai 2017, um 5:01 UCT. Das Foto wurde Sea Watch 2 von der Leitstelle für Seenotrettung in Rom zur Verfügung gestellt. Courtesy of Sea-Watch.

(Mailand) – Libysche Einsatzkräfte haben bei ihren jüngsten Rettungsoperationen fahrlässig gehandelt und dadurch Menschen, die in internationalen Gewässern im Mittelmeer gerettet wurden, in Gefahr gebracht, so Human Rights Watch heute. Die Vorfälle zeigen, dass die libyschen Kräfte nicht in der Lage sind, derartige Such- und Rettungsoperationen sicher durchzuführen.​

Italien und andere Staaten der Europäischen Union sollen die Kontrolle über die Rettungsoperationen in internationalen Gewässern nicht an libysche Einsatzkräfte abgeben. Beim Treffen des Europäischen Rats in Brüssel am 22. und 23. Juni 2017 sollen die EU-Mitgliedstaaten sich verbindlich verpflichten, Such- und Rettungsoperationen im zentralen Mittelmeer selbst durchzuführen.

„Die jüngsten Vorfälle zeigen, wie falsch es ist, wenn die EU das Leben von in Seenot geratenen Menschen der libyschen Küstenwache anvertraut, obwohl sicherere Alternativen existieren“, so Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Die EU soll dafür sorgen, dass ihre eigenen Schiffe in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste, wo es am häufigsten zum Schiffbruch kommt, zuverlässige Rettungsoperationen durchführen. Wann immer möglich sollen die Schiffe der EU und von NGOs von Italien aus koordiniert werden und nicht dem Kommando libyscher Schiffe unterstellt werden.“

Im zentralen Mittelmeer verläuft die tödlichste Migrationsroute der Welt. Von Anfang 2014 bis zum 1. Juni 2017 kamen dort mehr als 12.000 Menschen ums Leben oder wurden als vermisst gemeldet. Seit dem 1. Januar 2017 wurden über 60.000 Menschen gerettet und an die italienische Küste gebracht.

Am 10. und 23. Mai griffen Patrouillenboote der libyschen Küstenwache in eine bereits laufende Rettungsaktionen von NGOs ein. Mit drohendem Verhalten näherten sie sich dem Schiff, wodurch unter Umständen Panik ausgelöst werden kann. Sie gaben Menschen, die sich von nicht seetauglichen Schiffen retten wollten, keine Schwimmwesten. Am 23. Mai beobachteten – und filmten – Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, wie Seeleute der libyschen Küstenwache in die Luft schossen. Sie nahmen zudem Zeugenaussagen von Überlebenden auf, die angaben, die Sicherheitskräfte hätten auch ins Wasser geschossen, nachdem Menschen aus Panik ins Meer gesprungen waren.

Italiens Entscheidung, bei dem Vorfall am 10. Mai das Kommando an die libysche Küstenwache zu übergeben, stand im Einklang mit der allgemeinen EU-Strategie, libysche Behörden damit zu beauftragen, Bootsmigration nach Europa zu verhindern. Die Auslagerung der Verantwortlichkeit an eine einzelne Partei in einem krisengeschüttelten Land, in dem Migranten grausam misshandelt werden, ist jedoch höchst bedenklich.

Beobachter vor Ort berichteten glaubwürdig, dass am 26. Mai ein Boot der libyschen Küstenwache Schüsse in Richtung eines Schiffs der italienischen Küstenwache abfeuerte, als es gerettete Migranten nach Lampedusa brachte. Obwohl die italienischen Medien über den Vorfall berichteten, leugnete die italienische Küstenwache jede Kenntnis davon. Human Rights Watch sprach mit einer Person, die sich am Tag des Vorfalls auf einem Boot im Mittelmeer befand und auf einem offenen Kanal den Funkverkehr zwischen einem italienischen Marineboot und einem Schiff der libyschen Küstenwache mithörte. Aus dem Funkverkehr ging hervor, dass die libysche Küstenwache die Schüsse abgefeuert hatte, da es das italienische Schiff mit einem Flüchtlingsboot verwechselt hatte.

Die libyschen Einsatzkräfte bringen Personen, die sie auf See aufgreifen oder retten, in aller Regel nach Libyen, wo ihnen eine willkürliche Inhaftierung unter miserablen Bedingungen und schwere Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit, Folter und sexuelle Gewalt drohen. Diese Risiken sind gut dokumentiert. Die UN bezeichnete die Lage von Migranten in Libyen als „Menschenrechtskrise“. Schiffen unter EU-Flagge ist es deshalb verboten, gerettete Personen dorthin zu bringen, unabhängig davon, wo die Rettung erfolgt ist. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR appellierte an alle Staaten, sie sollten „Zivilisten, die aus Libyen fliehen (libysche Staatsbürger, Menschen mit Wohnsitz in Libyen und Bürger anderer Staaten), den Zugang zu ihrem Staatsgebiet gewähren“.

Am 10. Mai erhielt das italienische Koordinationszentrum für Seerettung (MRCC) in Rom den ersten Notruf wegen eines in Probleme geratenen Bootes und beauftragte die deutsche Organisation Sea-Watch, dem Boot zur Hilfe zu kommen. Anschließend gestattete es jedoch der libyschen Küstenwache, die Koordination zu übernehmen. Ein libysches Patrouillenboot übernahm das Kommando über die Operation. Obwohl das MRCC von dem Boot erfahren hatte, als dieses sich noch in libyschen Hoheitsgewässern befunden hatte, geschah der Vorfall rund 20 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt in internationalen Gewässern, als die Rettungsoperation von Sea-Watch bereits begonnen hatte.

Den libyschen Behörden fehlt es an Kompetenz, Ausrüstung und Schulung, um Rettungsoperationen sicher durchzuführen. Dies sollte jedoch Voraussetzung für eine Übertragung der Operationsleitung sein. Wenn Italien Rettungsoperationen leitet, soll es sicherstellen, dass Rettung und Landung sicher erfolgen. Das Kommando soll nur dann an die libysche Küstenwache übergeben werden, wenn Menschenleben unmittelbar gefährdet und keine anderen Schiffe verfügbar sind.

Die libysche Küstenwache ist in die von der EU anerkannte libysche Einheitsregierung eingegliedert. Sie untersteht dem Verteidigungsministerium und hat ihren Sitz in Al-Zawiya, einer Küstenstadt 50 Kilometer westlich von Tripolis. Ihr Oberbefehlshaber erklärte bei einem Treffen mit Human Rights Watch im April, Gewalt gegen Migranten bei den Rettungsoperationen, insbesondere durch Schläge mit Plastikrohren, sei notwendig, „um die Situation zu kontrollieren, weil man nicht mit ihnen kommunizieren kann. Manche können schwimmen, andere nicht.“

Libyen hat seine Such- und Rettungsgebiete nie offiziell ausgewiesen oder der Internationalen Schifffahrtsorganisation Informationen zu diesen Aktivitäten bereitgestellt, selbst unter Muammar Gaddafi nicht. Italien hat, mindestens seit Oktober 2013 als es die humanitäre Marineoperation Mare Nostrum begann, faktisch die Verantwortung für die Seenotrettung vor den libyschen Hoheitsgewässern übernommen.

Italien und andere EU-Staaten, denen diese Verantwortlichkeiten im Mittelmeer obliegen, insbesondere Malta, müssen im Rahmen des internationalen Seerechts eine wirksame Seenotrettung garantieren, die sowohl eine sichere Rettung als auch eine Landung an einem sicheren Ort gewährleistet. Dabei sollen sie ihr Handeln dahingehend prüfen, ob Menschen nach der Landung Verfolgung, Folter oder grausamer, unmenschlicher oder herabwürdigender Behandlung ausgesetzt sein könnten.

Um diese Verpflichtungen zu erfüllen, sollen die EU-Staaten auf dem Gipfel ein System schaffen und aufrecht erhalten, in dem sie das Kommando über alle Rettungsaktionen in internationalen Gewässern übernehmen und behalten. Zudem sollen sie sich erneut um die Erlaubnis bemühen, auch in libyschen Hoheitsgewässern zu operieren, damit Schiffe unter EU-Flagge sich besser für Rettungsoperationen positionieren können.

Die EU-Institutionen sollen die Beamten der libyschen Küstenwache schulen und beaufsichtigen und den Einsatz der durch EU-Staaten bereitgestellten Ausrüstung kontrollieren. Sie sollen Materiallieferungen stoppen, falls dieses nachweislich mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht werden kann. Solange die Behandlung von Migranten in libyschen Haftzentren und im Gewahrsam der Küstenwache sich nicht nachweislich verbessert, sollen die EU-Mitgliedstaaten alles daran setzen zu verhindern, dass sie mitverantwortlich für Menschenrechtsverletzungen durch die libyschen Behörden an Land und auf See werden. Alle Anstrengungen zur Verbesserung der Zustände in den offiziellen Haftzentren in Libyen sollen durch Kontrollen, eine transparente öffentliche Berichterstattung sowie Maßnahmen zur Einhaltung der Rechenschaftspflicht flankiert werden. Schulungen sollen konkrete Praxisübungen und Best-Practice-Methoden zur sicheren Seenotrettung beinhalten.

Die EU-Mitgliedstaaten sollen das Waffenembargo des UN-Sicherheitsrats gegen libysche Splittergruppen einhalten sowie den Bestimmungen zu Schulungen und der Lieferung von nicht-tödlichem Gerät folgen. Am 10. Juni veröffentliche der Sanktionsausschuss für Libyen, dem die Überwachung des Embargos obliegt, einen Bericht, der in Zweifel zieht, ob diejenigen, die an EU-Schulungen teilnehmen, von den Sanktionen ausgenommen sind. Der Bericht untersucht unter anderem, inwieweit Einsatzkräfte der Küstenwache wirksam kontrolliert werden und welchen Sicherheitsüberprüfungen die Schulungsteilnehmer unterzogen werden.

„Egal wie viel Wunschdenken man aufbringt: Es ist nicht zu rechtfertigen, wenn die Probleme mit den libyschen Behörden einfach ignoriert werden, wenn es darum geht, die Seenotrettung sicherzustellen und ein sicheres und menschliches Eingreifen zu garantieren“, so Sunderland. „Wenn den EU-Regierungen die Rettung von Menschenleben und der Schutz vor Menschenrechtsverletzungen gegen Migranten in Libyen wirklich am Herzen liegt, dann sollen sie die wichtigen Rettungsoperationen der EU im Mittelmeer stärker unterstützen, anstatt dies ihren unzuverlässigen libyschen Partnern anzuvertrauen.“

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