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Spielende Roma-Kinder im Flüchtlingslager Cesmin Lug in Mitrovica, im nördlichen Kosovo. Cesmin Lug ist eines der Lager, die von den UN errichtet wurden und bekanntermaßen schwer bleibelastet ist. In der Nähe befindet sich ein stillgelegtes Bleibergwerk. 12. Dezember 2007. © 2007 Carsten Koall/Getty Images
(New York, 7. September 2017) – Die Opfer von Bleivergiftung in UN-geleiteten Camps im Kosovo wurden bislang noch nicht von den Vereinten Nationen entschädigt. Die betroffenen Familien können somit nur schwer für ihre kranken Angehörigen sorgen, die dem Schwermetall ausgesetzt waren, so Human Rights Watch heute.

Etwa 8.000 Menschen aus den Bevölkerungsgruppen der Roma, Aschkali und ägyptischen Minderheiten wurden nach dem Kosovokrieg 1998-1999 aus ihrer Heimat Mitrovica vertrieben. Die UN, die damals de facto im Kosovo regierte, siedelte etwa 600 von ihnen in Camps an, die durch ein nahegelegenes Bergwerk stark mit Blei belastet waren. Dort mussten die Betroffenen über zehn Jahre lang ausharren. 2016 befand ein UN-Beratungsausschuss für Menschenrechte, dass die Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen im Kosovo (engl. United Nations Interim Administration Mission in Kosovo, kurz UNMIK) die Rechte der Betroffenen auf Leben und Gesundheit verletzt hatte. Laut dem Ausschuss war die UNMIK „auf die Gesundheitsrisiken hingewiesen worden, denen die [Campbewohner] seit November 2000 ausgesetzt waren“. Dennoch wurden diese erst mehr zehn Jahre später in eine sichere Umgebung umgesiedelt. Der Ausschuss empfahl der UNMIK, sich zu entschuldigen und individuelle finanzielle Wiedergutmachung zu leisten.

Trotz der Empfehlung des Auschusses verkündeten die Vereinten Nationen im Mai 2017, sie würden lediglich einen freiwilligen Treuhandfonds für Gemeindehilfsprojekte einrichten, „um den Roma, Aschkali und ägyptischen Bevölkerungsgruppen allgemein zu helfen”. Eine öffentliche Entschuldigung oder ein Schuldeingeständnis blieb somit aus.

„Die UN soll endlich auf den Rat ihrer eigenen Experten hören und die Menschen entschädigen, die durch Fehler der UN dauerhaft geschädigt oder beeinträchtigt sind”, so Katharina Rall, Umwelt-Expertin bei Human Rights Watch. „Wie kann die UN von Regierungen erwarten, Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen zu übernehmen, wenn sie dies nicht auch selbst tut?”

Im Juni sprach Human Rights Watch mit 19 Opfern von Bleivergiftung und Familienmitgliedern, die in UN-Camps gelebt hatten. Zudem führte Human Rights Watch Interviews mit Medizinern, Juristen und Organisationen, die sich für die betroffenen Gruppen einsetzen.

Viele Betroffenen, darunter auch Kinder, leiden an zahllosen Gesundheitsproblemen, unter anderem Krämpfe, Nierenleiden und Gedächtnisverlust, alles typische Langzeitfolgen einer Bleivergiftung. Blei ist ein hochgiftiges Schwermetall, das dem menschlichen Körper neurologische, biologische und kognitive Schäden zufügen kann. Kinder und schwangere Frauen sind hierbei besonders gefährdet. Eine 33-jährige Frau, die in einem bleibelasteten Camp gelebt hatte, bevor sie in den Roma-Bezirk in Mitrovica umzog, berichtete, dass sie sich Sorgen um ihren 16-jährigen Sohn mache. Bei ihm wurde im Alter von neun Monaten eine Bleivergiftung festgestellt. „Bis er sieben Jahre alt war, hatte er regelmäßig Krämpfe. Heute hat er… Probleme in der Schule. Er ist oft unruhig und kann sich nur schwer etwas merken. Als Mutter ist es sehr schwer für mich, meine Kinder so zu sehen und ihnen nicht helfen zu können.“

Der UN-Ausschuss untersuchte Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch die UNMIK, seit 1999 Interims-Regierung im Kosovo. Der Ausschuss stellte gravierende Menschenrechtsverletzungen fest, darunter Verletzungen des Rechts auf Leben, Gesundheit und Nichtdiskriminierung. Die Ankündigung des Pressebüros des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres, einen Fonds einrichten zu wollen, anstatt die Opfer einzeln zu entschädigen, bedeutet, dass nichts unternommen wird, solange die Mitgliedstaaten nicht in den Fonds einzahlen. Eine baldige Abhilfe für die Opfer ist somit mehr als ungewiss.  

Im Juli 2017 rief Guterres die Mitgliedstaaten dazu auf, in den Fonds einzuzahlen und so „die dringendsten Probleme der betroffenen Gemeinden” zu bekämpfen. Die UN sagt zwar, sie „tut alles, um finanzielle Ressourcen zu mobilisieren“, nannte jedoch keine Einzelheiten dazu, ob Regierungen bereits in den Fonds eingezahlt haben.

2016 beschloss die UN, einen ähnlichen Fonds für Haiti einzurichten. Ziel war es, 400 Millionen US-Dollar zu sammeln, um „materielle Unterstützung” zu leisten und Cholera zu behandeln und zu bekämpfen. Mehr als 9.000 Haitianer waren damals an Cholera gestorben, weitere 800.000 daran erkrankt. Die Epidemie wurde auf UN-Friedenstruppen zurückgeführt, die nach dem verheerenden Erdbeben 2010 ins Land gekommen waren. Bis jetzt wurden in den Fonds jedoch lediglich 2,7 Millionen US-Dollar eingezahlt, weniger als 1 Prozent der angestrebten Summe.

„Einen leeren Fonds zur Entschädigung der Opfer einzurichten, dies ist so, als würde man ein leeres Bankkonto für jemanden eröffnen, um sein Leben wiederaufzubauen”, so Rall. „Wie in Haiti sind es auch hier wieder die Opfer der UN-Fahrlässigkeit, die am Ende auf den Kosten sitzenbleiben und keine Möglichkeit auf Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung haben.”

Einen leeren Fonds zur Entschädigung der Opfer einzurichten, dies ist so, als würde man ein leeres Bankkonto für jemanden eröffnen, um sein Leben wiederaufzubauen.
Katharina Rall

Umwelt-Expertin
Laut internationalen Menschenrechtsbestimmungen verlangt das Recht auf Wiedergutmachung eine individuelle Entschädigung der Opfer für entstandene materielle und immaterielle Schäden. Die UN hat sich wiederholt in Form von Verträgen, Resolutionen der Generalversammlung und Berichten des Generalsekretärs dazu verpflichtet. Im Kosovo hat die UNMIK jedoch Gesetze verabschiedet, durch die ihr selbst Immunität verliehen werden sollte und sie sich somit rechtlichen Konsequenzen entziehen wollte, obwohl sie de facto die Regierung im Kosovo war.

Die Ankündigung des UN-Generalsekretärs im Mai verspricht bestenfalls Gemeindehilfsprojekte. Somit soll das Geld aus dem Fonds ausschließlich dafür genutzt werden, allgemeine Hilfe zu leisten. Die Mittel kommen demnach nicht spezifisch den Opfern der Bleivergiftung zugute und können somit nicht als Entschädigung gewertet werden. Die Entscheidung der UN, einen Treuhandfonds einzurichten, anstatt die Betroffenen einzeln zu entschädigen und somit Verantwortung für die Langzeitfolgen von Bleivergiftungen zu übernehmen, bedeutet, dass viele Familien weiterhin nur schwer für kranke Angehörige sorgen können, die Opfer von Bleivergiftung wurden. „Es interessiert niemanden, dass wir 12, 13 Jahre lang in den Camps gelitten haben”, so ein ehemaliger Leiter eines Camps in Cesmin Lug. „Niemand fragt: ,Wie geht es Ihrem Sohn? Ist er wieder gesund? Hat er irgendwelche Probleme oder Beeinträchtigungen?‘“

Viele Roma, Aschkali und ägyptische Familien, mit denen Human Rights Watch im Norden des Kosovo sprach, brauchen finanzielle und soziale Unterstützung. Einige Eltern sagten, sie könnten sich weder Medikamente noch gesundes Essen für ihre kranken Kinder leisten. Andere Familien beklagten den Mangel an Unterstützung für Kinder, die Probleme in der Schule haben aufgrund von Lernschwierigkeiten, die durch die Bleivergiftung ausgelöst wurden.

Hazbije (rechts), 50 Jahre, Mutter von neun Kindern, sagte, ihr Mann sei vor zwei Jahren verstorben. Seitdem kümmert sie sich allein um die Kinder. Mitrovica, 27. Juni 2017. © 2017 Human Rights Watch
Samir H., 40 Jahre alt und Vater von neun Kindern, lebte in bleibelasteten Camps in Zitcovac und Osterode. Er sagte: „Mein zweitältester Sohn wurde in ein Krankenhaus in Serbien gebracht, da seine Bleiwerte so hoch waren… Danach sagte man uns, dass er Medikamente nehmen solle, um die Krämpfe zu behandeln. Wir mussten selbst für die Medikamente aufkommen. Das war schwierig. Auch heute ist er immer noch sehr unruhig…Er ist kein guter Schüler, weil er sich nichts merken kann… Wir müssen uns um ihn kümmern, da wir keine Unterstützung von der Schule bekommen.”

Die medizinischen Experten, mit denen Human Rights Watch sprach, äußerten sich besorgt darüber, dass es keine fortlaufenden Tests gibt und die betroffenen Gruppen nicht unterstützt werden. Nach Recherchen von Human Rights Watch wurden die jüngsten Tests und Behandlungen von Bleivergiftungen durch den dänischen Flüchtlingsrat finanziert. Diese Tests waren jedoch sehr begrenzt und wurden schließlich im Mai 2017 eingestellt, da die Test-Sets ausgingen.

Die UN sollte den Opfern der Bleivergiftung individuelle Entschädigungen zahlen, so dass diese die Langzeitfolgen der Vergiftung bekämpfen können. Zudem forderten Eltern die UN auf, für eine gute medizinische Versorgung und Bildung für alle betroffenen Kinder zu sorgen. Beides ist derzeit für viele nicht gegeben. Die UN soll zudem mit der Regierung des Kosovo und Opfervertretern zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass alle Betroffenen angemessen medizinisch versorgt werden und Kinder die nötige Unterstützung erhalten, um ihr Recht auf Bildung wahrnehmen zu können.

„Das Kosovo, das einst von der UN regiert wurde, gehört zu den Orten, wo die Vereinten Nationen wirklich etwas bewirken können“, so Rall. „Die UN sollen den Empfehlungen ihrer eigenen Experten folgen und den Opfern und ihren Familien die Entschädigung zahlen, die ihnen zusteht.“

Chronik

1999: Roma, Aschkali und ägyptische Minderheiten werden von den UN in bleiverseuchte Lager umgesiedelt.

2000: Ein interner Bericht der UNMIK dokumentiert die Bleibelastung in der Region und in Blutproben der Bevölkerung.

2004: Die WHO führt Blutuntersuchungen in den Camps durch und fordert die UNMIK auf, umgehend alle Kinder und schwangeren Frauen aus den Camps zu evakuieren.

2010: Die UNMIK bringt die ersten Menschen aus der belasteten Region weg.

2013: Das letzte Camp wird geschlossen.

2016: Der Beratungsausschuss für Menschenrechte veröffentlicht eine Stellungnahme mit der Empfehlung, dass die UN eine öffentliche Entschuldigung ausspricht und die Opfer finanziell entschädigt.

May 2017: UN-Generalsekretär Guterres kündigt die Einrichtung eines freiwilligen Treuhandfonds an, um Gemeindeprojekte zu unterstützen und „Roma, Aschkali und ägyptischen Gemeinden” allgemein zu helfen. Individuelle Entschädigungen bleiben aus.

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