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Syrien/Russland: Gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur

Bevölkerung aus Idlib vertrieben durch völkerrechtswidrige Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen und Märkte

Eine Frau und ihre Tochter gehen am 5. April 2020 durch eine mit Trümmern gefüllte Straße in der Stadt Ariha im Süden des Gouvernements Idlib. © 2020 Aaref Watad/AFP via Getty Images

Bei den wiederholten Angriffen der syrischen und russischen Streitkräfte auf die zivile Infrastruktur in Idlib im Nordwesten Syriens handelt es sich offensichtlich um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Bei Dutzenden von unrechtmäßigen Luft- und Bodenangriffen auf Krankenhäuser, Schulen und Märkte zwischen April 2019 und März 2020 kamen Hunderte Zivilisten ums Leben. Durch die Angriffe wurden die Rechte auf Gesundheit, Bildung, Nahrung, Wasser und Unterkunft dramatisch eingeschränkt, was zu einer Massenvertreibung führte.

Der 167-seitige Bericht „‘Targeting Life in Idlib‘: Syrian and Russian Strikes on Civilian Infrastructure“ beschreibt Menschenrechtsverletzungen durch syrische und russische Streitkräfte während der militärischen Großoffensive zur Rückeroberung des Gouvernements Idlib und der umliegenden Gebiete, darunter die letzten, die von regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen gehalten wurden. Während der 11-monatigen Offensive verstieß die syrisch-russische Allianz wiederholt gegen Kriegsrecht. Opfer der Angriffe wurden die 3 Millionen Zivilisten vor Ort, von denen viele bereits durch Kämpfe anderswo im Land vertrieben worden waren. Der Bericht nennt zehn hochrangige syrische und russische Zivil- und Militärbeamte, die aufgrund ihrer Befehlsverantwortung in Kriegsverbrechen verwickelt sein könnten: Sie wussten von den Menschenrechtsverletzungen oder hätten von ihnen wissen müssen, unternahmen jedoch nichts, um diese zu stoppen oder die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Angriffe der syrisch-russischen Allianz auf Krankenhäuser, Schulen und Märkte von Idlib zeigen eine schrecklich Verachtung gegenüber jeglichem zivilen Lebens.
Kenneth Roth, Executive Director

Human Rights Watch

„Die Angriffe der syrisch-russischen Allianz auf Krankenhäuser, Schulen und Märkte von Idlib zeigen eine schrecklich Verachtung gegenüber jeglichem zivilen Lebens“, sagte Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch. „Die wiederholten unrechtmäßigen Angriffe scheinen Teil einer wohlüberlegten militärischen Strategie zu sein, um die zivile Infrastruktur zu zerstören und die Bevölkerung zu vertreiben. So kann die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib leichter zurückgewinnen.“

Human Rights Watch dokumentierte 46 Luft- und Bodenangriffe, bei denen auch Streumunition eingesetzt wurde. Bei diesen Angriffen wurden zivile Objekte und die zivile Infrastruktur in Idlib direkt getroffen oder beschädigt, was gegen Kriegsrecht verstößt. Bei den Angriffen wurden mindestens 224 Zivilisten getötet und 561 verwundet. Dies ist nur ein Bruchteil aller Angriffe auf Idlib und Umgebung, zu denen es in dieser Zeit kam. Durch die Offensive wurden 1,4 Millionen Menschen vertrieben, die meisten während der letzten Monate der Operation.


Human Rights Watch befragte über 100 Opfer und Zeugen der 46 Angriffe sowie Mitarbeiter des Gesundheits- und Rettungswesens, Lehrer, Mitarbeiter lokaler Behörden und Experten für das syrische und russische Militär. Human Rights Watch wertete zudem Dutzende Satellitenbilder und über 550 Fotos und Videos aus, die an den Angriffsorten aufgenommen wurden, ebenso wie Protokolle von Planespottern. Human Rights Watch übermittelte eine Zusammenfassung der Rechercheergebnisse sowie Fragen an die syrische und russische Regierung, erhielt bislang jedoch keine Antwort.

Die dokumentierten Angriffe, die meist in und um vier städtische Gebiete - Ariha, Idlib City, Jisr al-Shughour und Maarat al-Nu'man - stattfanden, beschädigten zwölf Gesundheitseinrichtungen und zehn Schulen, die daraufhin schließen mussten, einige sogar dauerhaft. Zudem wurden bei den Angriffen mindestens fünf Märkte beschädigt, vier Vertriebenenlager, vier Wohngebiete, zwei Gewerbegebiete sowie ein Gefängnis, eine Kirche, ein Stadion und das Büro einer Nichtregierungsorganisation.

Human Rights Watch fand hierbei keine Hinweise auf militärische Ziele in der Nähe zur Zeit der Angriffe, weder auf personen- noch auf sachbezogene Ziele. Auch wusste keiner der befragten Anwohner von einer Warnung der Bevölkerung vor den Angriffen. Der Großteil der Angriffe erfolgte weit entfernt von aktiven Kämpfen zwischen syrischen Regierungstruppen und regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen.

Die wiederholten Angriffe auf die zivile Infrastruktur in Wohngebieten, in denen kein militärisches Ziel erkennbar war, lassen darauf schließen, dass diese unrechtmäßigen Angriffe vorsätzlich begangen wurden. Sie scheinen darauf abzuzielen, der Zivilbevölkerung die Versorgungsgrundlagen zu entziehen und sie zur Flucht zu zwingen oder auf diese Weise einzuschüchtern, so Human Rights Watch.

Ein Bewohner der Stadt Idlib, Ayman Assad, beschrieb die Folgen der Luftangriffe: „Wir sind entsetzt. Ich fühle mich an meinem Arbeitsplatz nicht sicher, und gleichzeitig mache ich mir ständig Sorgen um meine Familie, insbesondere um meine beiden Kinder, die jeden Tag zur Schule gehen. Schulen, Märkte, Wohnhäuser, Krankenhäuser, alles kann zum Ziel werden. Sie haben es auf das Leben in Idlib abgesehen.“

Bei den meisten der dokumentierten Angriffe kamen offenbar weitreichende Sprengstoffwaffen in bewohnten Gebieten zum Einsatz. Bei derartigen Angriffen in Wohngebieten kann eine große Zahl von Zivilisten willkürlich getötet oder verwundet sowie zivile Objekte und Infrastruktur beschädigt und zerstört werden. Zudem haben diese Angriffe langfristige Folgen. So wird der Zugang zu wesentlichen Diensten wie medizinischer Versorgung, Bildung sowie Nahrung und Unterkunft unterbrochen. Zu den langfristigen Auswirkungen gehören auch die schweren psychologischen Folgen für die betroffenen Menschen. Die Kriegsparteien sollten diese Waffen nicht in Wohngebieten einsetzen, sagte Human Rights Watch.

Vor einem Waffenstillstand im März erlangten die Regierungstruppen die Kontrolle über fast die Hälfte des Gebiets in und um Idlib zurück, darunter Hunderte von entvölkerten Städten und Dörfern. Seitdem sind einige Menschen in Gebiete zurückgekehrt, die noch immer von regierungsfeindlichen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, wo sie eine dezimierte Infrastruktur vorfanden und nur begrenzten Zugang zu Nahrung, Wasser, Unterkunft, medizinischer Versorgung und Bildung hatten. Die Covid-19-Pandemie hat das zerstörte Gesundheitssystem der Region einer immensen Belastung ausgesetzt und die Zivilbevölkerung weiter gefährdet.

Jede Wiederaufnahme der Kämpfe würde die Zivilbevölkerung erneuten Angriffen mit Sprengstoffwaffen und dem zusätzlichen Risiko durch Covid-19 aussetzen, was zu Massenvertreibungen mit katastrophalen humanitären Folgen führen könnte. Vertriebene könnten versuchen, die nördliche Grenze Syriens zu überqueren, wo türkische Streitkräfte bereits zuvor Asylsuchende zurückgedrängt, auf sie geschossen und sie gewaltsam zurückgeführt haben.

Das humanitäre Völkerrecht bzw. das Kriegsrecht verlangen von allen Kriegsparteien, Angriffe ausschließlich gegen militärische Ziele zu richten, die Schädigung von Zivilisten oder zivilen Objekten zu vermeiden und keine Angriffe durchzuführen, die willkürlich oder unverhältnismäßig hohe zivile Schäden verursachen. Die Bevölkerung wird zudem durch internationale Menschenrechtsstandards geschützt, darunter der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der das Recht auf Gesundheit, Bildung und einen angemessenen Lebensstandard schützt.

Angesichts der mangelnden Rechenschaftspflicht für schwere Verbrechen, die in Syrien begangen wurden, sollte der UN-Sicherheitsrat gezielte Sanktionen gegen die Militärkommandeure und die Zivilbeamten verhängen, welche den Großteil der Verantwortung für Kriegsverbrechen und mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen. Zudem sollte der Sicherheitsrat die Situation in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof verweisen. Regierungen weltweit sollten Strafverfahren nach dem Grundsatz der universellen Gerichtsbarkeit verfolgen und eigenständig gezielte Sanktionen gegen Befehlshaber und Beamte verhängen, die in Kriegsverbrechen verwickelt sind, auch im Rahmen der Befehlsverantwortung.

Zur Bewältigung der humanitären Situation, insbesondere im Hinblick auf die Pandemie, sollte der Sicherheitsrat grenzüberschreitende Hilfslieferungen über alle drei zuvor genehmigten Grenzübergänge im Nordwesten und Nordosten Syriens erneut erlauben.

„Wir brauchen abgestimmte internationale Anstrengungen, um zu zeigen, dass unrechtmäßige Angriffe Konsequenzen nach sich ziehen. Dies hilft auch als Abschreckung vor zukünftige Gräueltaten und um zu zeigen, dass sich niemand aufgrund seines Ranges oder seiner Stellung der Verantwortung für schwere Verbrechen entziehen kann“, sagte Roth. „Solange Straflosigkeit herrscht, wird es weiter zu völkerrechtwidrigen Angriffen kommen - mit verheerenden Folgen für die Menschen.“

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