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Spanien: Rechte von Migranten auf Kanarischen Inseln schützen

Angemessene Aufnahmebedingungen, Zugang zu Informationen und Asyl gewährleisten

Nach einer gefährlichen Reise über den Atlantik verlassen Männer ein Holzboot am Arguineguín-Pier in Gran Canaria. © 2020 Javier Bauluz

(Mailand, 11. November 2020) - Die spanischen Behörden sollen unverzüglich die unzumutbaren und unhygienischen Bedingungen am überfüllten Arguineguín-Pier auf Gran Canaria, einer der spanischen Kanarischen Inseln, verbessern, so Human Rights Watch. Seit dem 7. November 2020, als Human Rights Watch den Pier besuchte, hat sich die Zahl der dort festsitzenden Migranten und Flüchtlingen auf über 2.000 mehr als verdoppelt.

Immer mehr Menschen haben in den letzten Monaten versucht, über die Kanarischen Inseln im Atlantik vor der Westküste Afrikas nach Europa zu gelangen. Dies hat nun zu einer immer schlimmer werdenden humanitären Krise geführt.

„Was ich vor einigen Tagen gesehen habe, war eine Reihe überfüllter Zelte, in denen die Menschen tagelang festgehalten werden und auf dem Boden schlafen. 30 oder 40 Menschen müssen sich eine mobile Toilette teilen“, sagte Judith Sunderland, stellvertretende Leiterin der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie die Situation aktuell aussieht, nun da dort mehr als doppelt so viele Menschen festgehalten werden. Selbst wenn man von den besten Absichten der Helfer vor Ort ausgeht: Unter diesen Bedingungen können weder die Würde der Menschen noch ihre Grundrechte geschützt werden, und sie werfen auch kein gutes Licht auf Spanien.“

Human Rights Watch ist einer der wenigen unabhängigen Beobachter, welche den Pier besucht haben. Die Regierung hat den Zugang für Journalisten, Fotografen und Fernsehteams unter Berufung auf Datenschutz gesperrt. Zum Zeitpunkt des Besuchs waren nach Angaben des Spanischen Roten Kreuzes, welches das Lager betreibt, 835 Menschen dort, darunter etwa 300, die in der Nacht zuvor gerettet worden waren. Am 10. November drängten sich insgesamt über 2.000 Menschen dicht an dicht auf dem Pier.

Das Notlager mit einer offiziellen Kapazität von 400 Personen wurde im August für medizinische Untersuchungen, einschließlich Covid-19-Tests, sowie für Identifizierungs- und Registrierungsverfahren eingerichtet. Am Tag des Besuchs von Human Rights Watch gab es 14 Zelte mit je einer mobilen Toilette für jeweils 30 oder 40 Personen sowie ein Zelt zum Duschen und Umkleiden. Ein Zelt ist für allein reisende Frauen und unbegleitete Kinder reserviert, obwohl internationale Richtlinien vorsehen, dass unbegleitete Jungen getrennt von Frauen und unbegleiteten Mädchen untergebracht werden müssen.

Die Zelte haben weder einen befestigten Boden noch Betten oder Matratzen. Befragte Personen, die tagelang auf dem Pier festgehalten wurden, gaben an, dass ihnen zwei Decken gegeben wurden, eine, um sich darauf auf den Boden zu legen und eine zum Zudecken. Vor Ort gibt es zudem ein Sanitätszelt, ein mobiles Krankenhauszelt sowie Ambulanzen des Roten Kreuzes.

Untersuchungen von Human Rights Watch in Arguineguín, die auf Interviews mit Migranten, Geflüchteten und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie auf eigenen Beobachtungen basieren, zeigen, dass die Bedingungen auf dem Pier völlig unzureichend sind, selbst wenn die Kapazitäten nicht erschöpft wären. Abgesehen von den schlechten Bedingungen gibt das Vorgehen auf dem Pier Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich des Zugangs zu Informationen und der Achtung des Rechts, Asyl zu beantragen.

Human Rights Watch-Mitarbeiter sprechen mit Frauen, die im Arguineguín-Pier festgehalten werden. 7. November 2020. © 2020 Javier Bauluz

Laut Mitarbeitern des Roten Kreuzes auf dem Pier umfassen die Covid-19-Protokolle routinemäßige PCR-Tests für alle, ein Isolationszelt für Personen, die typische Covid-19 Symptome aufweisen oder die positiv auf das Coronavirus getestet wurden, sowie die Verteilung von medizinischen Masken.

Trotzdem traf Human Rights Watch zwei Frauen, die nach Angaben des Roten Kreuzes positiv getestet wurden, aber immer noch mit anderen Frauen und Kindern in einem Zelt lebten. Menschen, die getrennt gereist sind, werden manchmal zusammen in Zelten untergebracht, wo es praktisch unmöglich ist, Abstand zu halten. Zum Zeitpunkt des Besuchs sagte ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes, dass 55 Personen, die positiv auf Covid-19 getestet worden waren, darauf warten, in eine spezielle Einrichtung zur Isolierung, Beobachtung und Behandlung gebracht zu weden. Das Busunternehmen weigerte sich jedoch, die Menschen zu transportieren, und berief sich hierbei auf gesundheitliche Bedenken.

Viele Menschen scheinen länger als die nach spanischem Recht erlaubten 72 Stunden am Pier festgehalten zu werden. Zwei Frauen aus Mali, die auf dem Pier befragt wurden, legten Beweise dafür vo, dass sie sich seit dem 22. Oktober über zwei Wochen dort aufgehalten hatten. Männer und zwei Jungen im Alter von 15 und 17 Jahren, die befragt wurden, nachdem sie in Hotels gebracht worden waren, sagten, sie hätten zwischen drei und zehn Tagen auf dem Pier verbracht. Alle, die vom Pier in ein Hotel kommen, müssen eine 14-tägige Quarantäne durchlaufen, bevor sie sich innerhalb und außerhalb des Hotels frei bewegen können. In dem vom Roten Kreuz geleiteten Hotel, das Human Rights Watch besuchte, trugen alle in den gemeinsam genutzten Räumen Masken.

Alle Befragten hatten eine Ausweisungsanordnung erhalten – unabhängig von ihren persönlichen Umständen und oft ohne klare Informationen in einer ihnen verständlichen Sprache oder ohne Zugang zu einem Anwalt. Die meisten Befragten verstanden die Bedeutung dieses Dokuments nicht, konnten sich nicht daran erinnern, eine Erklärung in einer ihnen verständlichen Sprache erhalten zu haben oder mit einem Anwalt gesprochen zu haben, bevor sie die Anordnung unterzeichnen sollten. Keine der befragten Personen wurde von der Polizei oder einer anderen Person, während sie am Pier festgehalten wurde, über ihr Recht auf Asyl informiert.

Human Rights Watch hat in Ceuta und Melilla, Spaniens Enklaven in Marokko, sowie in Häfen Andalusiens Hürden und Hindernisse für die Beantragung von Asyl dokumentiert.

Die Zahl der Menschen, die über die Kanarischen Inseln nach Europa gelangen wollen, ist im Laufe dieses Jahres deutlich gestiegen. Bislang haben im Jahr 2020 mehr als 13.800 Menschen die Kanarischen Inseln auf dem Seeweg erreicht, davon 2.188 allein am vergangenen Wochenende. Grenzkontrollen in Zusammenarbeit mit Senegal und Mauretanien, die nach einer großen Anzahl an Ankünften in den Jahren 2006-2007 eingeführt worden waren, hatten die Route zuvor abgeriegelt.

Nachdem in den letzten drei Monaten des Jahres 2019 etwa 2.000 Menschen angekommen waren, forderte Juan Carlos Lorenzo, Leiter der spanischen Flüchtlingsorganisation CEAR auf den Kanarischen Inseln, die Behörden dringend auf, eine Strategie für den Fall einer humanitären Krise zu entwickeln.

Die meisten Boote werden von der spanischen Seenotrettungsorganisation Salvamento Marítimo gerettet. Trotz ihres unermüdlichen Einsatzes hat sich der Atlantische Ozean zwischen der Westküste Afrikas und den Kanarischen Inseln rasch zum gefährlichsten Seeweg der Welt entwickelt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass in diesem Jahr bisher mehr als 600 Menschen auf See gestorben sind oder als vermisst gelten.

Die spanische Regierung gibt keine Aufschlüsselung nach Nationalität, aber die meisten Menschen scheinen aus dem Senegal, Mali, Marokko, der Elfenbeinküste und Guinea zu stammen. In einer Profilstudie des UNHCR gaben 30 Prozent der Befragten an, sie hätten ihr Land aufgrund „von Konflikten und weit verbreiteter Gewalt verlassen. 32 Prozent gaben Verfolgung aufgrund von „sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, politischen Gründen oder Zwangsheirat und Zwangsrekrutierung“ an.

Am 6. November kündigte der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska an, dass Spanien mit Unterstützung der Europäischen Union das Lager am Arguineguín-Pier schließen und in einem ehemaligen Munitionslager in Las Palmas, der Hauptstadt der Insel, eine neue Aufnahmeeinrichtung schaffen werde. Einzelheiten über eine solche Einrichtung, die Bedingungen oder die Kapazitäten oder wann sie in Betrieb genommen wird, wurden bislang nicht bekanntgegeben.

Die spanischen Behörden sollen rasch Alternativen zum Pier schaffen und sicherstellen, dass die auf den Inseln ankommenden Menschen Zugang zu einem fairen Asylverfahren haben, so Human Rights Watch. Vermehrte Transfers auf das spanische Festland könnten freie Plätze in den örtlichen Hotels schaffen, die derzeit aufgrund der Tourismuskrise leer stehen und in denen Migranten und Asylsuchende nach ihrer Entlassung aus dem Polizeigewahrsam untergebracht werden.

„Es war von Anfang an keine gute Idee, ein provisorisches Aufnahme- und Identifikationslager an einem Pier einzurichten. Jetzt stellt das Chaos dort eine echte Bedrohung für die Menschenrechte, die Gesundheit und die Sicherheit der Menschen dar“, sagte Sunderland. „Es sind schwierige Zeiten, aber Spanien kann und sollte auf eine humane Weise mit den Menschen umgehen, die an seinen Ufern ankommen“, so Sunderland.

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