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Europa muss den Uiguren helfen

Völlig zu Unrecht sitzen 18 Vertreter dieser Volksgruppe in Guantanamo und sollen nun abgeschoben werden

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel die Schließung des amerikanischen Gefangenenlagers in Guantanamo Bay forderte, schoss Washington mit schwerem Geschütz zurück. In Guantanamo säßen gefährliche Terroristen, die auf dem Schlachtfeld festgenommen worden seien, lautete die Reaktion aus dem Weißen Haus. War das ein unmissverständlicher Hinweis, dass Washington die deutsche Kanzlerin in dieser Frage für naiv hält? Aber: Stimmen die Beteuerungen der amerikanischen Regierung überhaupt?

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel die Schließung des amerikanischen Gefangenenlagers in Guantanamo Bay forderte, schoss Washington mit schwerem Geschütz zurück. In Guantanamo säßen gefährliche Terroristen, die auf dem Schlachtfeld festgenommen worden seien, lautete die Reaktion aus dem Weißen Haus. War das ein unmissverständlicher Hinweis, dass Washington die deutsche Kanzlerin in dieser Frage für naiv hält? Aber: Stimmen die Beteuerungen der amerikanischen Regierung überhaupt?

Nehmen wir den Fall von Abel Abdu al´Hakim, der seit Anfang 2002 in Guantanamo Bay inhaftiert ist. Vor gut einem Jahr, am 26. März 2005, schloss das amerikanische Militär eine erste sachliche Überprüfung seines Falles ab. Al´Hakim wurde als ein "nicht länger feindlicher Kombattant" eingestuft.

Redlicherweise hätten die Militärs anstelle von "nicht länger" allerdings das Wort "nie" setzen müssen. Denn die Untersuchung ergab, dass der Mann niemals die Terrororgansation al-Qaida noch die Taliban unterstützt hatte, auch nicht an kriegerischen Handlungen gegen Koalitionstruppen beteiligt gewesen und deshalb völlig zu Unrecht inhaftiert worden war. Mit anderen Worten: Die Vereinigten Staaten hatten sich geirrt. Doch Al´Hakim sitzt weiter hinter Gittern. Wie kam er nach Guantanamo? Und weshalb ist er noch immer dort?

Al´Hakim gehört zum Turkvolk der Uiguren; er wuchs in der westchinesischen Provinz Xinjiang auf. Wie die meisten Uiguren in China litten auch er und seine Familie unter religiöser Verfolgung. Im Jahr 1999 machte sich Al´Hakim auf den Weg, um, wie er sagt, ein besseres Leben zu finden. Nachdem er ein Jahr in Kirgisien gearbeitet hatte, beschloss er, in die Türkei auszuwandern, wo eine große uigurische Gemeinschaft lebt. Da er sich aber kein Flugticket leisten konnte, begab er sich zunächst nach Pakistan und plante dann, seine Reise auf dem Landweg, quer durch Iran, fortzusetzen. Er wartete dann auf ein Visum für Iran und wurde derweil eingeladen, in ein von Uiguren bewohntes Camp direkt hinter der afghanischen Grenze zu kommen. Man versprach ihm dort kostenlose Unterkunft und Verpflegung.

Al´Hakim erzählt, er habe während seines Aufenthalts in dem Camp als Bauarbeiter gearbeitet, den Koran studiert und gelernt, die einzige dort vorhandene Waffe, eine Kalaschnikow, zu putzen und zu laden. Und obwohl sich das Camp in einer von den Taliban kontrollierten Gegend befand, tauchten die Taliban niemals dort auf.

Im November 2001 legten Koalitionstruppen das Camp in Schutt und Asche. Al´Hakim floh mit 17 weiteren Uiguren in die Berge. Als eine Gruppe von Arabern ihnen anbot, sie an die pakistanische Grenze zu führen, folgten die Männer ihnen - nichts Böses ahnend. Die Eskorte brachte sie über die Grenze und direkt in die Arme des pakistanischen Militärs. Die Pakistaner übergaben sie, vermutlich gegen Bargeldzahlungen, an amerikanische Truppen. Die 18 Uiguren wurden Anfang 2002 nach Guantanamo Bay ausgeflogen.

Das Schicksal der Gruppe um Al´Hakim in Guantanamo ist kein Einzelfall. Ihre Geschichte ist aber beispielhaft für die Enthüllungen aus den Verhörprotokollen, die das Pentagon kürzlich veröffentlicht hat. Die Gefangenen wurden befragt, um zu entscheiden, ob sie immer noch als "feindliche Kombattanten" zu betrachten seien. Aus den Mitschriften geht hervor, wie unbedeutend diese Häftlinge waren. Nur wenige wurden auf dem Schlachtfeld aufgegriffen. Der Großteil wurde von Pakistan (oft gegen Bargeld) überstellt. Den meisten "Kombattanten" wurde nicht einmal vorgeworfen, gegen die Vereinigten Staaten von Amerika gekämpft zu haben - vielmehr beschuldigt man sie, in den Taliban nahe stehenden Einrichtungen gelebt und gearbeitet oder eines ihrer Ausbildungslager besucht zu haben.

Al´Hakims Geschichte ist symptomatisch für das Schicksal der Uiguren, die entweder als "nicht länger feindliche Kombattanten" eingestuft oder zur Entlassung freigestellt wurden, aber weiterhin in Guantanamo im rechtlichen Niemandsland festsitzen. Eine Rückführung nach China schlossen die Vereinigten Staaten aus - mit Recht, da die Uiguren dort wahrscheinlich gefoltert würden. Und obwohl der Uigure Al´Hakim de facto für unschuldig befunden wurde, weigert sich die US-Regierung, ihm und den anderen Uiguren Asyl zu gewähren. Stattdessen sucht sie nach Drittländern, welche Al´Hakim und die anderen zur Entlassung freigegebenen Uiguren aufnehmen wollen. Bis jetzt hat sich jedoch noch keine Regierung dazu bereit erklärt.
Die Zurückhaltung anderer Staaten ist verständlich. Die amerikanische Regierung hat es zu dieser Situation kommen lassen und sollte nun eigentlich selbst eine Lösung finden. Doch sie wird es nicht tun. Schon seit vier Jahren beharrt sie darauf, dass alle in Guantanamo Festgehaltenen Terroristen sind.

Washington befürchtet zweifellos den innenpolitischen Aufschrei, zu dem es kommen würde, sollte man den Häftlingen ein Leben im amerikanischen Exil gestatten. Zudem besteht auch Anlass zur Sorge um die Sicherheit der uigurischen Männer in den Vereinigten Staaten. Bundeskanzlerin Merkels Guantanamo-Kritik wurde auch von Regierungsbeamten in Frankreich, Großbritannien und im Europaparlament sowie von hochrangigen Vertretern der Vereinten Nationen aufgegriffen und wiederholt. Ihr Mahnen erinnert die Weltöffentlichkeit an die Misshandlungen, die Willkür und die Rechtlosigkeit, denen die ungefähr 500 Gefangenen in Guantanamo ausgesetzt sind, ohne dass auch nur ein Einziger von ihnen für irgendein Verbrechen verurteilt worden wäre. Nur auf dem Papier sind die Forderungen einfach zu erfüllen. Doch in der Praxis gilt es eine Reihe sehr schwieriger Fragen zu beantworten, wie etwa die nach dem Verbleib jener Gefangenen, die nicht in ihr Heimatland zurückkehren können, da ihnen dort Folter droht.

Wenn Europa es mit seinem Einsatz für eine Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo tatsächlich ernst meint, sollte es seinen Worten endlich Taten folgen lassen. Als ein erster Schritt sollten die Staaten der Europäischen Union Al´Hakim und den übrigen Uiguren nach mehr als vier Jahren in Haft ein rettendes Asyl anbieten. Dies wäre eine humanitäre Geste mit großer Strahlkraft. Europa könnte einmal mehr - und völlig zu Recht - mit dem Finger auf die amerikanische Regierung zeigen.

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