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(New York, 27. September 2010) - König Abdullah soll über die bislang symbolischen Reformen hinausgehen und den Schutz der Menschenrechte institutionell garantieren, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Indem der Monarch seine Versprechen in Gesetzen verankert, kann er langfristige Verbesserungen für seine Bevölkerung erreichen.

Der 52-seitige Bericht „Looser Rein, Uncertain Gain“ beurteilt die menschenrechtlichen Fortschritte in Saudi-Arabien während der bislang fünfjährigen Regierungszeit von König Abdullah. Die bisherigen Reformen hatten besonders die Wirkung, dass eine größere Toleranz für unterschiedliche Meinungen existiert und die öffentlich sichtbare Rolle von Frauen erweitert wurde. Doch die Initiativen des Monarchen waren vor allem symbolischer Natur. Es gab bislang kaum konkrete Verbesserungen und der institutionelle Schutz der Menschenrechte ist nach wie vor unzureichend.

„Wenn König Abdullahs Reformbegeisterung nachlässt oder seine Nachfolger wieder konservativere Wege einschlagen, dann stellt seine Amtszeit nur eine kurze Atempause dar, ohne substantielle Fortschritte zu hinterlassen" so Christoph Wilcke, Senior Researcher in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch.

Es ist König Abdullah hoch anzurechnen, dass seine Regierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und weiteren Anschläge auf westliche und saudische Ziele 2003 und 2004 eine Bestandsaufnahme gewagt, Defizite benannt und Reformbemühungen eingeleitet hat.

König Abdullah hat sich für eine Modernisierung des saudischen Staatsapparates eingesetzt, sowohl um eine höhere Effizienz als auch Transparenz zu erreichen. Er hat in gewissem Maße einen öffentlichen Diskurs zur Stärkung der Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten angestoßen, die Meinungsfreiheit in den Medien gefördert und sich für Rechtssicherheit und faire Gerichtsverfahren eingesetzt. Doch obwohl diese Bemühungen eine offenere Atmosphäre geschaffen haben, wurden sie bisher nicht von Gesetzesreformen, einer rechtlichen Kodifizierung, dem Willen zur Implementierung und einer Rechenschaftspflicht begleitet, so Human Rights Watch. 

Die bisherigen Fortschritte sind weder inhaltlich ausreichend noch sind die neuen Freiheiten ausreichend verankert, so Human Rights Watch. Zwar wurde das religiöse Establishment in die Defensive gebracht. Doch der bislang provisorische Charakter der Reformen legt nahe, dass die Staatsführung nur einen Versuchsballon steigen lässt und sich unsicher ist, welche Regierungs- und Gesellschaftsform sie anstrebt.


Die Reformen wurden von einer kontroversen Debatte über ihr Tempo und ihren Umfang begleitet, so Human Rights Watch. Liberale Vertreter haben sich für die Verabschiedung einer Verfassung, für ein gewähltes Parlament, die Gleichberechtigung von Frauen und religiöse Minderheiten sowie uneingeschränkte Meinungsfreiheit eingesetzt. Konservative, in der Regel Kleriker oder andere religiöse Vertreter, verteidigen hingegen den Status Quo, um ihren Einfluss auf die Justiz, das Bildungssystem, die religiösen Angelegenheiten sowie die öffentliche Moral zu sichern.

Widerstand gegen die Reformen kommt auch vom Sicherheitsapparat, der für Verbote von politischen Parteien, öffentlichen Kundgebungen und organisierten Streiks verantwortlich ist und sich gleichzeitig gegen Bemühungen zur Wehr setzt, seine Institutionen für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen.

König Abdullah soll Gesetzesreformen anstoßen, um die Diskriminierung von Frauen und religiösen Minderheiten zu beenden sowie den Schutz der Redefreiheit sicherzustellen, so Human Rights Watch. Ein wichtiger erster Schritt wäre die Verabschiedung eines bislang nicht vorhandenen Strafgesetzbuches, das auch den Schutz der Menschenrechte garantiert.

Die bislang konkretesten, wenngleich noch bescheidenen Fortschritte für Frauen umfassten dem Bericht zufolge im Jahr 2008 eine Veränderung der Politik, nach der Frauen nun auch ohne männliche Begleitung in Hotels übernachten dürfen, sowie eine Reform des Arbeitsrechts im Jahr 2005, nach der Frauen nun in allen Bereichen arbeiten dürfen, „die ihrer Natur entsprechen". Zwar können Frauen nun an Universitäten Jura studieren, aber immer noch nicht als Anwälte vor Gerichte auftreten.


Es besteht nach wie vor eine systematische Diskriminierung von Frauen, so Human Rights Watch. Auf Grund des saudischen Vormundschaftssystems haben Frauen nur den Status von Minderjährigen. Selbst grundlegendste Entscheidungen können sie nicht ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds treffen, einschließlich Entscheidungen über Ehe, Bildung, Beschäftigung, bestimmte gesundheitliche Dienste oder Reisen. Die Regierung hat bislang ihr Versprechen nicht erfüllt, das Vormundschaftssystem abzuschaffen.

„Frauen spielen eine immer größere Rolle in der Arbeitswelt", so Wilcke. „Doch ohne die Zustimmung ihrer männlichen Verwandten können sie bislang immer noch keinen Beruf ausüben."


Trotz einer größeren Toleranz der Staatsführung gegenüber öffentlicher Kritik hat es bislang keine institutionelle Verankerung der freien Meinungsäußerung gegeben, so Human Rights Watch. Die saudische Presse hat Menschenrechtsverletzungen der Religionspolizei und selbst bislang tabuisierte Themen wie häusliche Gewalt an die Öffentlichkeit gebracht. Doch die neuen Freiheiten haben Grenzen. Die Regierung kontrolliert nach wie vor die Ernennung von Redakteuren und bestraft diejenigen, die Mitglieder der Königsfamilie, die Regierungspolitik oder führende Geistliche kritisieren.

Die Regierung leitete im Jahr 2007 eine Justizreform ein, um spezialisierte Gerichte zu schaffen, und stellte mehrere Milliarden Rial für die rechtliche Ausbildung im Justizwesen bereit. Die geplanten Wirtschafts-, Arbeits-, Familien-, Straf- und Verkehrsgerichte haben ihre Arbeit bislang jedoch noch nicht aufgenommen. Und die Leistung einiger der hastig ausgebildeten Richter hat breite Kritik, selbst von älteren saudischen Richtern, hervorgerufen.


Da dem Land ein offizielles Strafgesetzbuch fehlt, können Richter derzeit über die Bestimmung einer Straftat nach völlig freiem Ermessen entscheiden. So werden beispielsweise nach wie vor Personen wegen „Hexerei" verurteilt.


Auch hat es bislang keine institutionellen Fortschritte im Hinblick auf eine Ausweitung der religiösen Toleranz gegeben, so Human Rights Watch. Im Jahr 2003 begann der König eine nationale Dialogserie mit dem Ziel, Vertreter unterschiedlichster Meinungen zusammen zu bringen und kritische Themen zu diskutieren, einschließlich religiösem Extremismus und religiöser Toleranz. Und auf Ermutigung des Königs begann die Islamische Weltliga im Jahr 2008 eine interreligiöse Dialogserie in Mekka. Weitere Stationen waren Spanien, die Vereinten Nationen und die Schweiz. Jedoch wurde bislang in keiner der genannten Foren die Notwendigkeit angesprochen, innerhalb des Königreichs selbst die Rechte religiöser Minderheiten zu sichern.

„Während der König in Madrid die Hände von Rabbinern schüttelt, verhaften saudische Beamte noch immer einheimische Schiiten für gemeinsame Gebete in Privatwohnungen", so Wilcke.

Wanderarbeiter machen rund ein Drittel der saudischen Bevölkerung aus. Sie leiden unter dem saudischen Bürgschaftssystem, das ihren Aufenthaltsstatus an einen bestimmten Arbeitgeber bindet. Eine Reform des Arbeitsrechts im Jahr 2007 erlaubte ihnen zwar, nach einem Jahr ihren Arbeitsplatz zu wechseln, jedoch nur dann, wenn ihr ursprünglicher Arbeitgeber zustimmt. Und im Jahr 2010 wurde die Frist auf zwei Jahre angehoben. Auch können Wanderarbeiter das Land nicht ohne die Zustimmung ihres Bürgen verlassen.

In den 1980er Jahren erlebte die saudische Gesellschaft einige reaktionäre Rückschritte hinsichtlich der freien Ausübung von Rechten. Die Erinnerung daran macht deutlich, dass politischer Wille notwendig ist, um wichtige rechtliche und institutionelle Veränderungen zu verwirklichen, so dass zukünftige Regierungen nicht ohne weiteres in der Lage sind, die bescheidenen Fortschritte rückgängig zu machen, so Human Rights Watch.

„Die oft wiederholte Erklärung der saudischen Regierung, dass sie fortschrittlicher sei als die eigene Bevölkerung, darf nicht als Entschuldigung für fehlende Reformen dienen", so Wilcke. „Die Regierung ist für die Bevölkerung verantwortlich und hat die Aufgabe, die Rechte aller Saudis zu schützen, und nicht nur die Rechte derjenigen aus dem konservativen Lager."


Human Rights Watch-Empfehlungen an König Abdullah

Gesetzesreformen beschließen:

  • Abschaffung des Vormundschaftssystems für Frauen sowie Befürwortung und Sicherung der Gleichstellung von Frauen, auch hinsichtlich der Berufswahl.
  • Abschaffung des Bürgschaftssystems für Wanderarbeiter, insbesondere die Notwendigkeit für einen Arbeitsplatzwechsel oder einen Ausreiseantrag die Zustimmung des Arbeitgebers einholen zu müssen.
  • Kodifizierung straf- und zivilrechtlicher Vorschriften, die in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsstandards berechenbar und frei von Willkür sein sollen.
  • Rechtlicher Schutz von Frauen und Mädchen gegen geschlechtsspezifische Gewalt einschließlich früher Heirat.
  • Regeln zur Bildung zivilgesellschaftlicher Organisationen in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards.
  • Ausweitung von arbeitsrechtlichem Schutz für Hausangestellte.


Rechtssicherheit und Gleichberechtigung umsetzen:

  • Förderung der Gleichberechtigung von Frauen, einschließlich dem Recht, Fahrzeuge zu führen, und dem Recht auf freie Berufswahl, indem alle verantwortlichen Behörden angewiesen werden, dass erwachsene Frauen nicht mehr die Einverständniserklärung eines männlichen Vormunds benötigen.
  • Befolgung der strafrechtlichen Bestimmungen über ein faires Gerichtsverfahren und des Anwaltsrechts, einschließlich der kürzlich verabschiedeten Verordnungen für eine kostenfreie Rechtsberatung für Angeklagte.
  • Gleicher Zugang für Frauen zum Justizsystem und Gleichstellung von Frauen vor Gericht durch kostenlose Rechtsberatung und die Gewährleistung des Rechts, persönlich vor Gericht zu erscheinen.
  • Freiheit der Religionsausübung für Schiiten, vor allem in Gebieten mit einem hohen schiitischen Bevölkerungsanteil, einschließlich der Freiheit Moscheen und husseiniyyas (schiitische religiöse Zentren) zu bauen und zu unterhalten, religiöse Schriften zu drucken, aus dem Ausland einzuführen und zu verteilen sowie religiöse Feiern öffentlich zu begehen.
  • Gleichstellung von Schiiten hinsichtlich der Berufswahl und des Zugangs zu Hochschulen, einschließlich der Möglichkeit, Militärakademien zu besuchen, in der Regierung und in den Sicherheitsdiensten zu arbeiten sowie Sitze in lokalen und regionalen Räten sowie dem Shura-Rat einzunehmen.


Strafverfolgung gewährleisten von:

  • Sicherheitsbeamten, die willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sowie die Misshandlung von Inhaftierten zu verantworten haben.
  • Richtern, die saudische Gesetze und internationale Menschenrechtsstandards im Hinblick auf die Gewährleistung fairer Verfahren, des Rechts auf freie Meinungsäußerung sowie auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit missachten.
  • Regierungsbeamten, die Personen auf der Grundlage von Geschlecht, Religion, Nationalität oder sozialer Herkunft diskriminieren.
  • Arbeitgebern, die die Rechte von Wanderarbeitern durch die Konfiszierung von Pässen, die Unterschlagung von Gehältern, Freiheitsberaubung oder andere Verstöße gegen saudische Gesetze verletzen.

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