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(Istanbul, 1. November 2010) – Human Rights Watch verurteilt uneingeschränkt das Selbstmordattentat vom 31. Oktober 2010 in Istanbul. Es ist nun wichtig, dass die Türkei darauf reagiert, indem sie die Täter verfolgt, nicht jedoch legitime Kritiker, so Human Rights Watch. In einem heute veröffentlichten Bericht dokumentiert Human Rights Watch die Anwendung von Anti-Terror-Gesetzen zur strafrechtlichen Verfolgung Hunderter kurdischer Demonstranten, die wie bewaffnete Kämpfer behandelt werden, was gegen die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verstößt.

Der 75-seitige Bericht „Protesting as a Terrorist Offense: The Arbitrary Use of Terrorism Laws to Prosecute and Incarcerate Demonstrators in Turkey“ beruht auf einer Überprüfung von 50 Fällen. Er schildert 26 Einzelfälle von Personen, die wegen Terrorismus angeklagt wurden, obwohl sie nichts mit Gewalt wie dem Anschlag vom 31. Oktober zu tun hatten. Sie nahmen nur an Protestkundgebungen teil, die nach Ansicht der Regierung die Ziele der verbotenen, mit Waffengewalt agierenden Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützten. Hunderte kurdische Demonstranten sitzen derzeit im Gefängnis und warten auf den Ausgang ihres Prozesses oder Berufungsverfahrens. Andere wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die das Oberste Berufungsgericht der Türkei bestätigt hat.

„In der kurdischen Frage wird politische Opposition von den Gerichten in der Türkei allzu schnell als Terrorismus eingestuft“, so Emma Sinclair-Webb, Türkei-Expertin von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Wenn man der Meinungs- und Versammlungsfreiheit keinen Raum mehr lässt, hat dies lediglich den gegenteiligen Effekt und macht den bewaffneten Widerstand nur attraktiver.“

In den letzten drei Jahren haben sich die Gerichte bei der Strafverfolgung von Demonstranten auf weit gefasste Terrorismusparagraphen, die neu in das türkische Strafgesetzbuch von 2005 eingefügt wurden, und auf einzelne Fälle berufen, um Demonstranten zu verfolgen. Die Gerichte sind zu der Entscheidung gekommen, dass allein die Anwesenheit bei einer Demonstration, zu deren Teilnahme die PKK aufgerufen hat, einem Handeln auf Anordnung der PKK gleichkommt. Demonstranten erhielten selbst dann hohe Strafen für terroristische Handlungen, wenn ihr Vergehen darin bestand, das Victory-Zeichen zu machen, Beifall zu klatschen, PKK-Parolen zu rufen, Steine zu werfen oder Reifen in Brand zu setzen.

Der Bericht ruft die türkischen Behörden auf, die Gesetze zu ändern, durch die Demonstranten willkürlich und rigoros wegen Terrorismus angeklagt werden können. Außerdem sollen laufende Strafverfahren, die sich auf diese Gesetze berufen, eingestellt und die Fälle überprüft werden, in denen es bereits zu Verurteilungen gekommen ist.

Nachdem im In- und Ausland Kritik an der strafrechtlichen Verfolgung von Kindern laut geworden ist, denen terroristische Straftaten vorgeworfen wurden, weil sie an kurdischen Demonstrationen teilgenommen hatten, änderte das Parlament im Juli die betreffenden Gesetze, um solche Urteile abzuwehren und die Strafverfolgung von Kindern vor Gerichten, die auf Terrorismus-Verfahren spezialisiert sind, zu verhindern.

Doch ansonsten sind die Gesetze unverändert, einschließlich Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuches, der Delikte zugunsten der PKK unter Strafe stellt. Dieser Artikel wird in Verbindung mit Artikel 314/2 zur strafrechtlichen Verfolgung von Demonstranten angewendet und kriminalisiert die Mitgliedschaft in der mit Waffengewalt agierenden Organisation.

„Das Ende der Strafverfolgung von demonstrierenden Kindern unter Berufung auf diese Gesetze war ein wichtiger Schritt“, so Sinclair-Webb. „Aber dass Gesetze, die eindeutig auf Terrorismus ausgerichtet sind, gegen erwachsene Demonstranten angewendet werden können, fügt der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei immensen Schaden zu.“

In dem aktuellen Bericht werden unter anderem folgende Fälle aufgeführt. Das Gericht gelangte in jedem dieser Fälle zu dem Schluss, dass die betreffende Person auf Anordnung der PKK an der Demonstration teilgenommen hat, weil es im Vorfeld Berichte gab, wonach die PKK die Menschen zur Teilnahme gedrängt habe.

Der Student Murat Iþikirik verbüßt gegenwärtig eine Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten, weil er im März 2006 bei einem Trauerzug für vier PKK-Mitglieder in Diyarbakir das Victory-Zeichen gemacht und im März 2007 bei einer Protestkundgebung auf dem Campus der Dicle-Universität in Diyarbakir Beifall geklatscht hatte.

Vesile Tadik, Mutter von sechs Kindern, wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie im Dezember 2009 bei einer Demonstration für bessere Haftbedingungen für den PKK-Führer Öcalan in Kurtalan in der Provinz Siirt ein Transparent mit der Parole „Der Weg zum Frieden führt über Öcalan“ hochgehalten hatte. Der Fall ging in die zweite Instanz.

Medeni Aydin hatte bei einer ähnlichen Kundgebung am selben Tag in Eruh, Siirt, „Es lebe Öcalan“ gerufen. Er wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Er ist bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens im Gefängnis. Selahattin Erden erhielt eine ähnliche Strafe, weil er bei der gleichen Demonstration ein Transparent mit einer Parole für die PKK mit hochgehalten hatte. Auch er bleibt bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens in Haft.

Fatma Gökhan, Tufan Yildirim und Feyzi Aslan erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und fünf Monaten sowie elf Jahren und drei Monaten, weil sie am 26. März 2008 bei einer Demonstration in Diyarbakir Parolen gerufen, Victory-Zeichen gemacht und Steine geworfen hatten. Ihre Verurteilung wegen einer „ zugunsten der PKK begangenen Straftat“, die den Tatbestand der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation“ erfüllen, wurde bestätigt. Sie müssen Haftstrafen von mindestens sieben Jahren absitzen. Die Verfahren sind wieder aufgenommen worden, nachdem aufgrund einer im Juli 2010 in Kraft getretenen Änderung des Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes weitere Anklagepunkte gegen sie erhoben worden waren.

Die anhaltende strafrechtliche Verfolgung von Demonstranten ist Teil eines größer angelegten Vorgehens gegen prokurdische, rechtlich anerkannte politische Parteien, die Verbindungen zur PKK haben sollen. Am 18. Oktober begann in Diyarbakir der Prozess gegen 152 Mitglieder und Vertreter der vom Verfassungsgericht im Dezember 2009 verbotenen Partei für eine Demokratische Gesellschaft und ihrer Nachfolgepartei, der Partei für Frieden und Demokratie, die mit 20 Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Die Anklagen lauteten unter anderem auf Separatismus, Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation und Unterstützung einer solchen.

Unter den Angeklagten befinden sich ehemalige sowie amtierende Bürgermeister, Anwälte und ein prominenter Menschenrechtsverteidiger. Sechs der amtierenden Bürgermeister und ein Menschenrechtsverteidiger wurden im Dezember letzten Jahres verhaftet und sitzen seitdem im Gefängnis. Weitere 53 Personen, unter ihnen auch die Anwälte, befinden sich seit April 2009 in Haft. Insgesamt sind in der Türkei etwa 1.700 Parteimitglieder, die sich wegen ähnlicher Vorwürfe vor Gericht verantworten müssen, in Haft.

„Die Regierung soll die Umsetzung der Reformen zu Ende bringen, indem sie das Demonstrationsgesetz für Erwachsene ändert und mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Türkei vollends in Einklang bringt“, so Sinclair-Webb. „Terrorismus oder Protestkundgebungen lassen sich nicht verhindern, indem man Menschen ins Gefängnis wirft.“

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