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Russland: Wiener Prozess soll Ermittlungen anstoßen

Prozess weist auf Verbindung zwischen Ramsan Kadyrow und Wiener Mord hin

(New York, 15. November 2010) - Die russische Regierung soll das Beweismaterial der österreichischen Polizei sorgfältig prüfen, das auf Verbindungen zum tschetschenischen Präsidenten hinweist, so Human Rights Watch. Es weist darauf hin, dass der vom Kreml eingesetzte Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, in den Entführungsversuch involviert war, der 2009 zum Tod eines tschetschenischen Flüchtlings in Wien führte.

Dieses Beweismaterial soll Teil umfangreicher Ermittlungen sein, die auch glaubwürdigen Hinweisen auf weitere gravierende Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nachgehen. Der Flüchtling Umar Israilow starb an den Folgen von Schussverletzungen, die ihm seine Mörder bei einem gescheiterten Entführungsversuchs zufügten. Der Prozess gegen drei Männer, die der versuchten Entführung und des Mordes beschuldigt werden, beginnt am 16. November 2010 in Wien. Der Anklageschrift zufolge versuchten die Angeklagten, Israilow zu entführen, um ihn „den tschetschenischen Behörden auszuliefern“.

„Die Wiener Polizei und Staatsanwaltschaft sehen Verbindungen zwischen diesem Fall und den tschetschenischen Behörden“, so Rachel Denber, Direktorin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Es stellt sich die Frage: Was haben die russischen Behörden unternommen, um eine Verwicklung der tschetschenischen Führung in diesen Fall zu untersuchen? Und in weiterem Sinne: Wer ist verantwortlich für die zahllosen, gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, die Menschenrechtsgruppen und Journalisten dokumentieren?“

Israilow, 27, wurde am 13. Januar 2009 in Wien erschossen, als er aus einem Lebensmittelgeschäft kam. In den Jahren vor seiner Ermordung hat er öffentlich erklärt, von Kadyrow gefoltert worden zu sein, und nannte explizit den Namen Kadyrows in einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Die Anklageschrift der österreichischen Staatsanwaltschaft stellt fest, dass die Entführung von einem engen Vertrauten von Kadyrow, Shaa Turlaew, in Auftrag gegeben wurde, und lässt die Frage offen, ob Turlaew die „treibende Kraft“ hinter dem Verbrechen war oder „ob er nur Kadyrows Befehle weitergab“.

Die drei mutmaßlichen Entführer befinden sich in Untersuchungshaft in Österreich. Aber Turlaews gegenwärtiger Aufenthaltsort ist unbekannt, genau wie derjenige des tatsächlichen Schützen. Kadyrow hat jegliche Beteiligung an dem Fall abgestritten.

Laut eines Artikels in der New York Times unmittelbar nach dem Mord wurde Israilow 2003 in Tschetschenien als Aufständischer inhaftiert, in Folge einer Amnestie freigelassen und arbeite daraufhin kurz für Kadyrows Sicherheitsdienst. Der Artikel zitierte ein Interview mit Israilow, in dem er berichtet, dass er während seiner Haft von Kadyrow gefoltert wurde, unter anderen mit Elektroschocks. Israilow wurde außerdem mit der Aussage zitiert, die Misshandlung und Folter anderer Gefangener durch Kadyrow und seine Untergebenen beobachtet zu haben.

Der Anklageschrift zufolge wurde Israilow im Sommer 2008 von einem Mann angesprochen, der sagte, er sei von Kadyrow geschickt worden, und Israilow und seine Familie Schaden androhte, sollte dieser nicht seine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückziehen und nach Tschetschenien zurückkehren. Kurz darauf sagte der Mann, Artur Kurmakaew, gegenüber der Wiener Polizei aus, Kadyrow habe ihn damit beauftragt, Israilow „zu finden und zurückzubringen“. Kurmakaew wurde in Wien inhaftiert und – vorgeblich freiwillig – im Juni 2008 nach Russland abgeschoben. Seit Frühjahr 2009 fehlen jegliche Informationen über sein Schicksal oder seinen Aufenthaltsort.

Einige Tage vor seiner Ermordung beklagte sich Israilow bei der Wiener Polizei darüber, von Unbekannten verfolgt zu werden.

„Die Anklageschrift besagt, dass es sich um einen politischen Mord handelt, und es erscheint sehr plausibel, dass Israilow ins Fadenkreuz geriet, weil er den tschetschenischen Präsidenten der Folter bezichtigte“, sagt Denber. „Leider ist Israilow nur einer von vielen Menschen, die ermordet wurden, nachdem sie Misshandlungen in Tschetschenien aufdeckten.“

Am 15. Juli 2009 wurde die bekannte tschetschenische Menschenrechtsaktivistin, Natalia Estemirowa, verschleppt und ermordet. Estemirowa arbeitete an einigen der brisantesten Menschenrechtsfälle für das Menschenrechtszentrum von Memorial. Die Umstände ihrer Ermordung, in Verbindung mit einer Reihe von Drohungen gegen sie, Memorial und unabhängige Aktivisten und Journalisten in Tschetschenien, weisen auf eine mögliche offizielle Beteiligung an ihrer Ermordung oder entsprechende Kenntnis der Behörden hin.

Im August 2008 wurde ein anderes mutmaßliches Folteropfer, Mokhmadsalakh Masaew, einige Wochen nach Veröffentlichung eines Interviews in Tschetschenien verschleppt, in dem er seine Misshandlung und illegale Verwahrung in einem Geheimgefängnis beschrieb, das mutmaßlich von Kadyrow in seiner Heimatstadt betrieben wurde. Masaews Schicksal und Aufenthaltsort sind unbekannt.

Seit Jahren dokumentieren Memorial, Human Rights Watch und andere Gruppen im Zusammenhang mit Tschetscheniens Kampagne zur Bekämpfung von Aufständischen Menschenrechtsverletzungen der kremlfreundlichen tschetschenischen Truppen, die sich de facto unter Kadyrows Kontrolle befinden. Dennoch hat die russische Regierung keine nennenswerten Schritte unternommen, diese Beschuldigungen und Berichte zu untersuchen.

„Dieser Prozess wirft ein Schlaglicht darauf, was in Tschetschenien geschieht“, sagt Denber. „Seit Jahren verschleppen die tschetschenischen Polizei- und Sicherheitskräfte Verwandte mutmaßlicher Aufständischer oder Personen, die der Kollaboration mit Aufständischen verdächtigt werden. Diese Personen werden im Verborgenen festgehalten, gefoltert, sie ‚verschwinden‘ oder werden ermordet. Während Israilows Leidensgeschichte 2003 begann, gehen diese Misshandlungen im heutigen Tschetschenien weiter.“

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