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Jemen: Militärallianz untersucht unrechtmäßige Luftangriffe nicht

USA könnten mitverantwortlich für willkürliche Angriffe sein

(Beirut, 27. November 2015) – Die von Saudi-Arabien geführte Allianz gegen die Huthis im Jemen hat bislang keinen der offenbar unrechtmäßigen Luftangriffe untersucht, bei denen Hunderte Zivilisten getötet wurden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Auch die Vereinigten Staaten sind verpflichtet, die Angriffe zu untersuchen, die mutmaßlich gegen Kriegsvölkerrecht verstoßen, da auch sie dabei eine Rolle spielten.  

Der 73-seitige Bericht „‘What Military Target Was in My Brother’s House?’: Unlawful Coalition Airstrikes in Yemen” untersucht detailliert zehn Luftangriffe der Allianz, die offensichtlich gegen Völkerrecht verstoßen und bei denen zwischen April und August 2015 mindestens 309 Zivilisten getötet und mehr als 414 verletzt wurden. Laut den Vereinten Nationen kamen die meisten Todesopfer, die es seit Beginn der Militärkampagne der Allianz Ende März gegen die Huthis gegeben hat, bei Luftangriffen ums Leben. Human Rights Watch hat keine Kenntnis davon, dass Saudi-Arabien, andere Mitglieder der Allianz oder die USA diese oder andere mutmaßlich unrechtmäßige Angriffe untersucht haben oder die Opfer oder ihre Familien in irgendeiner Form entschädigt wurden.


„Es ist erschütternd, dass die Allianz nicht einmal einen der zahlreichen potentiell unrechtmäßigen Luftangriffe untersuchen will”, so Joe Stork, stellvertretender Leiter der Nahost-Abteilung von Human Rights Watch. „Die Allianz mag hochentwickelte Waffen und die Unterstützung der USA haben. Ihr Respekt für das Kriegsrecht ist jedoch bestenfalls unterentwickelt.”  

Human Rights Watch hat vor Ort in den Gouvernements Ibb, Amran, Hajja, Hodaida, Taizz, und der Hauptstadt Sanaa recherchiert. Hierbei wurden Gespräche mit Opfern, Zeugen und medizinischem Personal geführt. Die Luftangriffe trafen Wohnhäuser, Märkte, eine Fabrik und ein Zivilgefängnis. In all diesen Fällen hat Human Rights Watch entweder kein offenkundiges militärisches Ziel ausmachen können oder kam zu dem Schluss, dass beim jeweiligen Angriff kein Unterschied zwischen Zivilisten und militärischen Zielen gemacht wurde. Human Rights Watch hat die Namen von 309 Menschen zusammengetragen, davon 199 Männer, 43 Frauen und 67 Kindern, die bei den Angriffen ums Leben kamen. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei allen um Zivilisten handelt. Saudische Beamte haben bislang nicht auf die mehrfach von Human Rights Watch gestellte Anfrage zu den zehn Luftangriffe reagiert. 


„Als ich zum Haus kam, war die Luft noch immer voller Staub und alles war von einer Ascheschicht bedeckt”, so Muhammad Saleh al-Qihwi, dessen Haus im April 2015 bei einem Luftangriff auf die Stadt Amran zerstört wurde. „Asmas Kopf lag offen und ihr Bein blutete. Ihre zweijährige Tochter Hyam lag auf ihrer Schulter, ihr Kopf war eingeschlagen. Ihre andere Tochter Hasna, die 7 alt ist, rief ‚Baba’ (Vater). Ihr Haar und ihre Haut waren von Asche bedeckt und sie hatte schwere Verbrennungen. Ihr Vater, mein Bruder Muhammad, hatte geschlafen, als der Angriff losging, und das Dach stürzte auf ihn. Als ich ihn aus den Trümmern zog, lief Blut aus seinem Ohr. Er war bereits tot.”

Im September 2014 brachte die Bewegung Ansar Allah, besser bekannt unter dem Namen Huthi, eine schiitische Gruppierung der Zaiditen aus dem Norden Jemens, die jemenitische Hauptstadt Sanaa unter ihre Kontrolle. Im Januar 2015 vertrieben sie den Präsidenten Abdu Rabu Mansour Hadi und seine Kabinettsmitglieder, die nach Saudi-Arabien flohen. Die Huthis drängten daraufhin nach Süden vor, wo sie drohten, gemeinsam mit Teilen der dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh loyal verbundenen Streitkräfte, die Hafenstadt Aden einzunehmen.

Am 26. März startete die von Saudi-Arabien angeführte Allianz - bestehend aus Bahrain, Kuwait, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, Jordanien, Marokko und Sudan - an der auch die USA beteiligt sind, eine Serie von Luftangriffen gegen die Huthi und ihre Verbündeten. Die USA sind eine der Konfliktparteien und spielen eine unmittelbare Rolle bei der Koordination der Militäroperationen, so Human Rights Watch. Lieutenant General Charles Brown, Befehlshaber der US-Luftwaffe, sagte, das US-Militär hätte engagierte Mitarbeiter in das saudische Zentrum gesandt, in dem Luftangriffe geplant werden, um bei der Koordinierung der Aktivitäten zu helfen, so berichtete das Wall Street Journal. Die Beteiligung an bestimmten Militäroperationen, so etwa dem Betanken in der Luft während Bombenangriffen, könnte die USA mitverantwortlich für die Verstöße gegen das Kriegsrecht durch die Allianz machen. Als eine der beteiligten Parteien in dem Konflikt sind die USA dazu verpflichtet, die mutmaßlich unrechtmäßigen Angriffe, an denen sie beteiligt waren, zu untersuchen.

Großbritannien und Frankreich haben die Allianz unterstützt, indem sie Waffen an Saudi- Arabien und andere Mitglieder der Allianz verkauft haben. Die USA haben kürzlich den Verkauf von Fliegerbomben an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate angekündigt.

Laut Kriegsrecht darf eine Konfliktpartei nur militärische Ziele angreifen. Bei Angriffen sind die beteiligten Parteien verpflichtet, alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um die Zahl an zivilen Opfern oder den Schaden an zivilen Objekten zu minimieren. Die eingesetzten Waffen und die Art, in der der Angriff ausgeführt wird, müssen es erlauben, zwischen militärischen Zielen und Zivilisten zu unterscheiden. Angriffe, bei denen es kein offensichtlich militärisches Ziel gibt und Angriffe, die wahllos erfolgen oder bei denen der zivile Schaden in keinem Verhältnis zum erwarteten militärischen Gewinn steht, verstoßen gegen das Kriegsrecht.

Die Konfliktparteien müssen zudem Einsätze in dicht besiedelten Gebieten meiden und, soweit wie möglich, Zivilisten aus der Nähe von Militärkräften entfernen. In mehreren Fällen steht nicht fest, ob die Huthis oder die Verbündeten ernsthafte Schritte unternommen haben, um Zivilisten von Orten zu entfernen, wo Munition gelagert wurde oder wo es zu Kampfeinsätzen kam.

Human Rights Watch zeigt sich zudem besorgt über den Einsatz von explosiven Waffen mit großflächiger Wirkung in dicht besiedelten Gebieten durch die von Saudi-Arabien angeführte Allianz. Eine Waffe, die einen Wirkungsradius von Dutzenden oder Hunderten Metern hat, wird höchstwahrscheinlich Zivilisten verletzen oder töten, wenn sie in dicht besiedelten Gebieten zum Einsatz kommt.

Der UN-Sicherheitsrat soll alle Beteiligten des Konflikts im Jemen daran erinnern, dass diejenigen, die gegen internationale Menschenrechtsstandards und gegen humanitäres Völkerrecht verstoßen, mit Reiseverboten rechnen müssen oder damit, dass ihr Vermögen eingefroren wird, so Human Rights Watch. Der UN-Menschenrechtsrat soll einen unabhängigen, internationalen Untersuchungsmechanismus schaffen, um die mutmaßlichen Verstöße gegen Kriegsrecht durch alle Konfliktparteien zu untersuchen.

„Der UN-Sicherheitsrat und der Menschenrechtsrat stehen untätig daneben, während Bomben der Allianz Zivilisten töten”, so Stork. „Sie müssen nun endliche Untersuchungen anordnen, die die Verantwortlichen für diese offensichtlich illegalen Angriffe bislang nicht einleiten wollten.“

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Den Bericht “‘What Military Target Was in My Brother’s House?’: Unlawful Coalition Airstrikes in Yemen” finden Sie unter:
https://www.hrw.org/node/283702

Weitere Human Rights Watch-Berichte zu Luftangriffen in Jemen finden Sie hier:
https://www.hrw.org/news/2015/07/27/yemen-coalition-strikes-residence-apparent-war-crime
https://www.hrw.org/news/2015/06/30/yemen-unlawful-airstrikes-kill-dozens-civilians
https://www.hrw.org/news/2015/04/15/yemen-factory-airstrike-killed-31-civilians-0
https://www.hrw.org/news/2015/04/01/yemen-airstrike-camp-raises-grave-concerns
https://www.hrw.org/news/2015/03/28/yemen-saudi-led-airstrikes-take-civilian-toll

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