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Offener Brief an den österreichischen Außenminister Sebastian Kurz zur Lage in Libyen

Migranten sind nicht der Feind

Sehr geehrter Herr Minister Kurz,

während Ihres eintägigen Besuchs in Tripolis am 1. Mai erklärten Sie: „Eine Rettung im Mittelmeer darf nicht verbunden sein mit einem Ticket nach Mitteleuropa.“ . Diese Aussage fördert fremdenfeindliche Stimmungen in Europa und könnte dazu führen, dass falsche Informationen weiter verbreitet werden.  

Migrants on a wooden boat await rescue by the Malta-based NGO Migrant Offshore Aid Station in the central Mediterranean in international waters off the coast of Sabratha, Libya on April 15, 2017.  © 2017 Reuters

Ich habe zahlreiche Haftzentren für Migranten in Libyen besucht, zuletzt zwei Einrichtungen in West-Libyen im April. Dort halten die Behörden Häftlinge unter katastrophalen Bedingungen in überfüllten Räumen fest. Diese Erfahrungen ließen mich zu dem Schluss gelangen, dass Menschen, die vor Konflikten fliehen, nach einem besseren Leben oder neuen Möglichkeiten streben, dies trotz aller Risiken auch weiterhin versuchen werden. Und dafür sind sie auch bereit, Gefahren auf sich zu nehmen, die ihnen bei der Durchquerung Libyens und anderer Orte drohen, wo man Migranten die Tür ins Gesicht schlägt.

Sie selbst haben die australische Regierung dafür gelobt, dass sie ihre Verantwortung für Asylsuchende einfach auslagert; und Sie haben angeregt, die Europäische Union solle dieses Modell übernehmen. Doch der menschliche Preis von Australiens „Offshore-Abfertigung“ ist enorm. Asylsuchende werden unter Zwang in Staaten überstellt, in denen sie ursprünglich überhaupt nicht Asyl beantragen wollten und die nicht in der Lage sind, Migranten zu integrieren. Dort werden die Schutzsuchenden auf unbestimmte Zeit festgehalten. Die australischen Flüchtlingszentren in Nauru und Papua-Neuguinea haben unter Flüchtlingen und Asylsuchenden zu schwerem Leid geführt, einschließlich psychischer Schäden. Laut der Vereinten Nationen haben Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen in Nauru „epidemische Ausmaße erreicht“.

Nun schlagen Sie vor, Europa solle seine Werte und menschenrechtlichen Verpflichtungen außer Acht lassen und das gleiche tun, also Bootsflüchtlinge, die sich europäischen Hoheitsgewässern nähern, abfangen und zur Erfassung in Staaten wie Ägypten und Tunesien überstellen. Sie erklärten: „Niemand wird bereit sein, Geld für Schleuser auszugeben, um dann nach Ägypten zu gelangen.“ Dieses Risiko wird jedoch nicht ausreichen, um verzweifelte Menschen davon abzuhalten, mithilfe von Schleusern nach Europa zu gelangen – selbst wenn in den betreffenden Staaten Missbrauch droht.

Eine Politik, die sich ausschließlich darauf konzentriert, Menschen an der Einreise zu hindern, ist zum Scheitern verurteilt, denn sie bietet keine gangbaren Alternativen.

Sehr geehrter Herr Außenminister, bitte suchen Sie nach einer praktikablen Lösung für die Probleme bei den Einwanderungs- und Asylverfahren in Europa, statt von der Einrichtung eines zweiten Nauru im Mittelmeer zu träumen. Eine solche Lösung muss die Zahl der Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, reduzieren. Im laufenden Jahr sind dies bereits 938 Tote. Die Schaffung zusätzlicher Möglichkeiten für eine sichere und legale Einwanderung in EU-Staaten, auch nach Österreich, wären hier ein guter Anfang.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Gelegenheit geben könnten, diese Fragen mit Ihnen persönlich zu erörtern.

Hanan Salah
Senior Researcher Libyen
Human Rights Watch

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