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Russland: Angriff auf Meinungsfreiheit

Repressive Gesetze und Maßnahmen schränken freie Rede im Internet ein, bringen kritische Stimmen zum Schweigen

(Moskau) – Russland schränkt die freie Rede im Internet massiv ein, überwacht Online-Aktivitäten in einer Weise, die in die Privatsphäre eingreift, und verfolgt Kritiker unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Extremismus, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 83-seitige Bericht „Online and On All Fronts: Russia’s Assault on Freedom of Expression“ dokumentiert, dass die russischen Behörden ihre Versuche intensiviert haben, das Internet unter größere staatliche Kontrolle zu bringen. Seit dem Jahr 2012 haben die russischen Behörden ungerechtfertigterweise Dutzende Personen strafrechtlich verfolgt, wegen Posts in den sozialen Medien, Videos, Medienberichten und Interviews. Zudem schalteten sie Hunderte Websites und Portale ab oder blockierten den Zugang zu ihnen. Die Behörden haben außerdem eine Reihe repressiver Gesetze im Parlament durchgesetzt, die Online-Inhalte und -Infrastrukturen regulieren. Diese Gesetze verschaffen der russischen Regierung vielfältige Möglichkeiten, den Zugang zu Informationen einzuschränken, unbeaufsichtigt zu überwachen und Informationen zu zensieren, die die Regierung als „extremistisch“, „traditionellen Werten“ widersprechend oder anderweitig schädlich einstuft.

„Die russischen Behörden greifen die Meinungsfreiheit an“, so Yulia Gorbunova, Russland-Expertin bei Human Rights Watch. „Diese Gesetze führen nicht nur eine harte Politik ein, sondern stellen auch eklatante Menschenrechtsverletzungen dar.“

Russland soll die repressiven Gesetze, die in den vergangenen Jahren verabschiedet wurden, zurückziehen, Kritiker nicht länger unter dem Deckmantel der Extremismusbekämpfung verfolgen und seine internationale Verpflichtung einhalten, die Meinungsfreiheit zu schützen, so Human Rights Watch.

Der Bericht beruht auf Interviews mit mehr als 50 Anwälten, Journalisten, Herausgebern, politischen und Menschenrechtsaktivisten, Experten, Bloggern und ihren Familienangehörigen. Er analysiert Gesetze und von der Regierung erlassene Richtlinien mit Bezug auf Internet-Inhalte und die Meinungsfreiheit sowie Anklageschriften, Gerichtsurteile und andere für einzelne Fälle relevante Dokumente.

Einige Gesetze zielen offensichtlich darauf ab, den Raum für öffentliche Diskussionen zu begrenzen, auch im Internet. Das betrifft insbesondere Themen, die die Behörden als kontrovers oder sensibel betrachten, etwa der bewaffnete Konflikt in der Ukraine, Russlands Rolle im Syrien-Krieg, die Rechte von LGBT-Menschen sowie öffentliche Proteste und anderes politisches und zivilgesellschaftliches Engagement.

Einschränkungen der Redefreiheit verhindern öffentliche Auseinandersetzungen und nehmen allen Personen ihre Stimme, die unzufrieden sind mit der anhaltenden Wirtschaftskrise oder der russischen Außenpolitik.

„Es gibt Dutzende Fälle, bei denen die Betroffenen buchstäblich ins Gefängnis gesteckt wurden“, so Andrei Soldatov, ein Enthüllungsjournalist und Experte für Internetfreiheit in Russland gegenüber Human Rights Watch. „Das wirkt sich natürlich darauf aus, auf welchem Niveau und wie frei in den sozialen Medien diskutiert wird.“

Andere Gesetze unterminieren die Privatsphäre und Sicherheit von Internetnutzern, indem sie Datenspeicherung regulieren, den Zugang zu Informationen ungerechtfertigt einschränken und gewährleisten, dass den Behörden zum Teil ohne richterliche Prüfung umfangreiche Daten zugänglich gemacht werden können, auch vertrauliche Nutzerinformationen.

Im Jahr 2016 verabschiedete das Parlament eine Reihe von Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung, durch die Telekommunikations- und Internetunternehmen verpflichtet werden, alle Kommunikationsinhalte sechs Monate lang und die Metadaten drei Jahre lang zu speichern. Dieses Gesetz erleichtert es den Behörden, ohne richterliche Prüfung Nutzer zu identifizieren und auf persönliche Informationen zuzugreifen, was einen ungerechtfertigten Eingriff in die Privatsphäre und die Meinungsfreiheit darstellt. Ein Gesetz aus dem Jahr 2015, das Email-Dienste, soziale Netzwerke und Suchmaschinen betrifft, verbietet es, die persönlichen Daten russischer Staatsbürger auf Servern außerhalb Russlands zu speichern. Ein Gesetzesentwurf aus dem Jahr 2017 verbietet es, dass Nutzer von Internet-Messaging-Diensten wie WhatsApp oder Telegram anonym bleiben.

„Die russische Regierung kontrolliert de facto die traditionellen Medien, aber unabhängige Internetnutzer haben Regierungsmaßnahmen offen kritisiert“, so Gorbunova. „Die Behörden sehen diese Menschen offensichtlich als Gefahr an, die entwaffnet werden müssen.“

Die Behörden nutzen zunehmend vage und übermäßig breite Anti-Extremismus-Gesetze gegen Personen, die kritische Ansichten über die Regierung äußern, und haben in manchen Fällen Kritik an der Regierung mit Extremismus gleichgesetzt. Die Gesetze zur Extremismusbekämpfung, die seit dem Jahr 2012 in Kraft getreten sind, dienen dazu, die Zahl der Verfahren wegen extremistischer Straftaten, insbesondere im Internet, zu erhöhen.

Aus Daten des SOVA-Centers, einem renommierten russischen Think Tank, geht hervor, dass im Jahr 2015 216 Nutzer sozialer Medien wegen extremistischer Vergehen verurteilt wurden, im Jahr 2010 waren es 30. Zwischen 2014 und 2016 ging es bei etwa 85 Prozent der Schuldsprüche wegen „extremistischer Rede“ um Meinungsäußerungen im Internet. Das Strafmaß reichte von Bußgeldern über Sozialstunden bis hin zu Gefängnisstrafen. Zwischen September 2015 und Februar 2017 mussten 54 Personen wegen „extremistischer“ Rede, auch im Internet, ins Gefängnis. Im Februar 2017 erhöhte sich die Zahl schlagartig auf 94.

Im Zuge der russischen Besetzung der Krim, die nun drei Jahre andauert, bringen die Behörden Dissidenten auf der Halbinsel zum Schweigen. Sie gehen aggresiv gegen Kritiker vor, indem sie diese belästigen, einschüchtern und in einigen Fällen fingierte Extremismus-Verfahren gegen sie eröffnen, zum Beispiel wegen „separatistischer Forderungen“. Die meisten Strafverfahren gegen krimtatarische Aktivisten, ihre Anwälte und andere Personen wurden wegen deren friedlicher Kritik an der Besatzung eingeleitet.

Die Meinungsfreiheit ist einer der wichtigsten Pfeiler einer demokratischen Gesellschaft und schützt nicht nur Informationen und Ideen, die wohlwollend aufgenommen werden, sondern auch solche, die vor den Kopf stoßen, schockieren oder verunsichern. Die russische Regierung soll das Recht ihrer Staatsbürger respektieren und wahren, alle Arten von Informationen frei zu erhalten und zu verbreiten, die von internationalen Menschenrechtsnormen geschützt sind.

Russlands internationale Partner sollen vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und dem Europarat ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck bringen, dass Moskau die Redefreiheit einschränkt, und dieses Thema auch bei bilateralen Gesprächen mit der russischen Regierung ansprechen.

Große Internetunternehmen, die in Russland aktiv sind, etwa Twitter, Facebook, Microsoft, Google und VK, sollen die Anforderungen der russischen Regierung, Inhalte zu zensieren und Nutzerdaten herauszugeben, sorgfältig prüfen und diesen nicht Folge leisten, wenn das zugrundeliegende Gesetz oder eine spezifische Anfrage internationalen Menschenrechtsstandards widerspricht. Sie sollen keine Menschen in Gefahr bringen.

„Die russische Regierung stellt Kritiker als Extremisten dar. So schafft sie ein Klima der Angst und befördert Selbstzensur“, so Gorbunova. „Die Menschen in Russland sind heute unsicherer denn je, was die Grenzen akzeptabler Rede sind.“

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