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Bernardo wuchs in einer quilombo (afro-brasilianische) Gemeinde mit etwa 60 Personen - Männer, Frauen, Kinder - in Minas Gerais im südwestlichen Brasilien auf. Bernardo berichtete Human Rights Watch, dass er sich machtlos fühle, wenn es um die Verbreitung von Pestiziden in der Luft geht. "Wir haben mehrere Klagen bei der lokalen Polizeistation und der Militärpolizei eingereicht. Niemand kümmert sich darum - es gibt keine Gerechtigkeit." © 2018 Marizilda Cruppé für Human Rights Watch
(São Paulo) – In ländlichen Regionen in Brasilien werden Bewohner mit Pestiziden vergiftet, die in der Nähe von Wohnhäusern, Schulen und Arbeitsplätzen versprüht werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Viele fürchten Vergeltungsakte von reichen und politisch einflussreichen Landwirten, wenn sie Vergiftungen anprangern oder sich für bessere Gesetze oder Schutzvorschriften aussprechen.

Der 50-seitige Bericht „You Don’t Want to Breathe Poison Anymore“ dokumentiert akute Vergiftungsfälle durch Pestizide an sieben Orten in Brasilien. Dazu zählen landwirtschaftliche Gemeinden, indigene Gruppen, quilombo-(afro-brasilianische-)Gemeinschaften und Schulkinder in ländlichen Gebieten. Sie werden Pestiziden ausgesetzt, wenn der Sprühnebel beim Ausbringen vom Zielbereich abdriftet oder wenn die Pestizide in den Tagen nach dem Ausbringen verdampfen und sich in nahe gelegene Gebiete verbreiten.

„Überall in Brasilien vergiften Pestizide, die auf großen Plantagen versprüht werden, Kinder in Klassenräumen und Dorfbewohner in Höfen“, so Richard Pearshouse, stellvertretender Leiter der Abteilung Umwelt und Menschenrechte bei Human Rights Watch und Autor des Berichts. „Die brasilianischen Behörden müssen dem ein Ende setzen und die Sicherheit derer gewährleisten, die sich dagegen wehren, dass ihre Familien und Gemeinden durch Pestizide geschädigt werden.“

Viele Menschen in den betroffenen Gemeinden fürchten Vergeltungsmaßnahmen von Großgrundbesitzern. Personen in fünf der sieben besuchten, ländlichen Gemeinden sagten, dass sie bedroht worden seien oder Angst vor Racheakten hätten, wenn sie die Pestizidvergiftung anzeigen würden, die sie für ihr Gesundheitsprobleme verantwortlich machten. Im Jahr 2010 wurde ein politisch aktiver Bauer erschossen, nachdem er bei der Kommunalverwaltung darauf gedrängt hatte, das Sprühen von Pestiziden aus der Luft zu verbieten.

Die Besitzer großer Plantagen ignorieren häufig die landesweit vorgeschriebene „Pufferzone“ zwischen Ausbringungsort und Wohngebieten, die beim Pestizid-Sprühen aus der Luft eingehalten werden muss. Eine entsprechende „Pufferzone“ für das Sprühen am Boden gibt es nicht. Amtliche Daten zu Pestizid-Vergiftungen bilden das tatsächliche Ausmaß des Problems nicht ab. Ebenso schwach ist das System, mit dem die Regierung Pestizidrückstände in Trinkwasser und Lebensmitteln überwacht.

Zu den Symptomen einer akuten Pestizid-Vergiftung zählen Erbrechen, Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel während oder unmittelbar nach dem Ausbringen von Pestiziden im Umfeld der betroffenen Person. Zudem wird die dauerhafte Aufnahme selbst geringer Dosen von Pestiziden mit Unfruchtbarkeit, Entwicklungsstörungen bei Föten, Krebs und anderen schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht. Für schwangere Frauen, Kinder und andere anfällige Personen sind die Gefahren besonders groß.

„Ich hatte starke Kopfschmerzen, Magenschmerzen und das Gefühl, ich müsste mich übergeben“, sagt ein 10-jähriges Mädchen, das in der Gemeinde Cascavel im Bundesstaat Paraná zur Schule geht. „[Der Lehrer] sagte, 'lasst uns aus dem Klassenraum gehen, es riecht zu schlecht'. Wir gingen früher nach Hause. Als ich zuhause ankam, war mir schlecht, ich fühlte mich krank, hatte starke Kopfschmerzen. Ich musste mich zweimal übergeben.“

Brasilien darf nicht zulassen, dass Pestizide mit Flugzeugen über Wohnhäusern oder mit Traktoren neben Schulen versprüht werden. Die Regierung soll unverzüglich das Sprühen aus der Luft verbieten und Pufferzonen für das Sprühen am Boden vorschreiben.

In den kommenden Monaten wird der Kongress über einen Gesetzesentwurf beraten, der den regulativen Rahmen für das Ausbringen von Pestiziden weiter schwächen soll. Eine parlamentarische Sonderkommission verabschiedete den Entwurf im Juni 2018. Die gesamte Abgeordnetenkammer muss über den Entwurf abstimmen, bevor er dem Bundessenat vorgelegt wird.

Zu den zahlreichen Neuerungen im Gesetzesentwurf zählen, dass der Einfluss des Gesundheits- und Umweltministeriums stark beschränkt werden soll, also genau der Ministerien mit Fachexpertise zu den Auswirkungen von Pestiziden. Der Entwurf schlägt auch vor, den Rechtsbegriff agrotóxicos (Pestizide) durch produtos fitosanitários (Pflanzenschutzmittel) zu ersetzen, was die Gesundheits- und Umweltgefahren von Pestiziden verschleiert.

Brasilien ist einer der weltweit größten Anwender von Pestiziden: Die jährlichen Verkäufe belaufen sich auf rund 8,5 Milliarde Euro. Dieser gewaltige Verbrauch geht auf den zunehmenden großflächigen Anbau von Monokulturen zurück. Etwa 80 Prozent der Pestizide werden auf Sojabohnen-, Mais-, Baumwoll- und Rohrzucker-Plantagen verwendet. Von den zehn im Jahr 2016 in Brasilien am häufigsten genutzten Pestiziden sind vier in Europa nicht zugelassen, was darauf hindeutet, für wie gefährlich sie andere Regierungen halten.

„Brasilien braucht keine schwächeren Gesetze, sondern engmaschigere Kontrollen und einen nationalen Aktionsplan zur Begrenzung des Pestizid-Einsatzes“, so Pearshouse. „Der Kongress soll gegen den Gesetzesentwurf stimmen. Er soll zudem die relevanten Ministerien damit beauftragen, die Auswirkungen von Pestiziden auf die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt landesweit zu untersuchen.“

Ausgewählte O-Töne:

„Ich wurde krank, litt unter Übelkeit und Kopfschmerzen. Ich musste mich oft übergeben, wenn das anfing, hörte es nicht mehr auf. Ich musste meinen Mann um Hilfe bitten. Ich bin schwanger und mache mir Sorgen um meinen Sohn. Ich habe Angst, dass das alles seiner Gesundheit schadet.“ – Eduarda, eine schwangere Frau, Mitte 20, die in einer landwirtschaftlichen Gemeinde wenige Stunden von Satarem im Bundesstaat Pará entfernt lebt.

Das Flugzeug hat neben der Schule gespritzt und der Wind hat das in die Schule geweht. Man konnte es nicht riechen, aber spüren, wie der Nebel zum Fenster reinkam. Die vier- bis siebenjährigen Kinder klagten, dass ihre Gaumen und Augen brennen.“ – Marelaine, Mitte 20, ist Lehrerin in einer ländlichen Gemeinde südlich von Bahia.

“Ich fühlte mich plötzlich schlecht, mir war übel. Ich versuchte, Wasser zu trinken, damit es besser wird, aber das half nicht. Ich musste mich mehrfach übergeben, bis ich nichts mehr im Magen hatte und nur noch würgte.” – Carina, eine erwachsene Frau, die an einer Landschule in der Gemeinde Primavera do Leste im Bundesstaat Mato Grosso studiert.

Man konnte die weiße Flüssigkeit [in der Luft] sehen. Wenn man es riecht, geht das direkt in den Kopf. Man hat einen bitteren Geschmack im Mund. Man will kein Gift mehr einatmen – man will eine andere Art von Luft einatmen – aber die gibt es nicht.“ – Jakaira, ein Angehöriger der indigenen Gruppe der Guarani-Kaiowá, Mitte 40, der in einer Gemeinde wenige Autostunden entfernt von Campo Grande im Bundesstaat Mato Grosso do Sul lebt.

Diese Woche flog [ein Pestizid-Flugzeug] mit eingeschaltetem Sprüher über das Haus [eines Nachbarn]. Man spürt, wie die Pestizide auf der Haut landen. So was passiert immer, wenn gesprüht wird. Wir haben diese Probleme seit zehn Jahren. Wir haben mehrere Beschwerden bei der [örtlichen Zivil-]Polizei und bei der Miltärpolizei eingereicht. Niemand kümmert sich darum – es gibt keine Gerechtigkeit.“ – Bernardo, ein etwa 30-jähriger Mann aus einer quilombo-Gemeinschaft wenige Autostunden entfernt von Belo Horizonte im Bundesstaat Minas Gerais.

[Das Pestizid-Sprühen] stört uns und es löst Übelkreit aus; ich bekomme Kopfschmerzen davon. Ich versuche, auf der anderen Seite des Klassenzimmers zu sitzen [als auf der, die am nächsten am Sprühnebel ist]. Wir haben einen Ventilator [im Klassenzimmer], der hilft ein bisschen, aber der Geruch geht nicht weg. Mir ist davon schlecht und schwindelig geworden. Das ist schlimm, weil man sich übergeben will, aber es bleibt einem im Hals stecken.“ – Danilo, ein 13-jähriger Junge, der eine Landschule wenige Autostunden außerhalb von Goiânia, der Hauptstadt des Bundesstaates Goiás, besucht.

***Alle Namen wurden zum Schutz der Personen geändert

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