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Ken Roth quote. © 2020 Human Rights Watch
 

Vor ein paar Wochen gab es in der Europäischen Union einen fundamentalen Wandel: sie besteht nicht mehr ausschließlich aus demokratischen Staaten. Und es kommt noch schlimmer – die Staats- und Regierungschefs in Europa zuckten deshalb fast nicht mal mit der Schulter.

Der Griff nach der absoluten Macht des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán Anfang April – unter dem Deckmantel der Coronakrise – ist die Spitze eines Jahrzehnts autoritärer Regierungsführung. Schritt für Schritt haben Orbán und seine Regierungspartei Fidesz die Gerichte politisiert, die unabhängigen Medien dezimiert, die akademische Freiheit zerstört, der Zivilgesellschaft Fesseln angelegt und Fremdenfeindlichkeit salonfähig gemacht. Selbst nachdem das Europäische Parlament das „Artikel 7”-Verfahren in Gang gesetzt hatte, das Sanktionen gegen Staaten erlaubt, die gegen EU-Werte verstoßen, haben die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten fast nichts getan, um Orbán zu stoppen: Zögerlichkeit allerorten.

Selbst denjenigen Europäern, die weiter ihre Scheuklappen tragen, hätten nach Orbáns jüngstem Manöver – als er sich für unbestimmte Zeit das Regieren per Dekret übertragen ließ - mehr als formale Sorgenbekenntnisse über die Lippen kommen müssen.

Die erste Reaktion der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyens Führung war so leisetreterisch, dass Ungarn nicht einmal namentlich erwähnt wurde. Diese Farce wurde nur noch durch eine Stellungnahme von 16 EU-Ländern übertroffen, die – auch ohne das Land explizit zu nennen - so vage und allgemein formuliert war, dass Ungarn sich sogar noch über seine EU-Kollegen lustig machen konnte und bekannt gab, sich dem Statement anzuschließen.

Eine deutlichere Antwort war möglich. Die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten sich dazu bekennen können, das Artikel 7-Verfahren zu beschleunigen und Ungarns Stimmrechte zu suspendieren. Sie hätten die großzügigen EU-Hilfen unter die Lupe nehmen können, mit denen Orbán die Taschen seiner Kumpanen füllt, worauf sowohl die Medien wie auch Aufsichtsbehörden immer wieder hinweisen. Schließlich sollten Orbán und seine Minister politisch isoliert werden – solange bis die Diktatur in Ungarn beendet ist. Alle Staats- und Regierungschefs der EU, besonders Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Marcon, sollten deutlich machen, dass es kein „business as usual” gibt, wenn sie mit Orbán als Diktator zu tun haben.

Doch was haben wir gesehen? Untätigkeit und Leisetreterei.

Die Europäische Volkspartei (EVP), eine paneuropäische politische Allianz aus mitte-rechts Parteien, zu der Fidesz gehört, verdient besonderen Tadel. Nicht nur, dass sie ihre eignen politischen Werte (ohne überhaupt von EU-Werten zu sprechen) aufgegeben hat. Seit Jahren hat sie auch Orbán besänftigt und war nicht bereit, Fidesz auszuschließen (durch die stattgefundene Supendierung behielt die Partei viele ihrer Vorteil), obwohl Schritt für Schritt Ungarns Demokratie zerstört wurde. Jahrelang hat der CSU-Politiker Manfred Weber als Vorsitzender der EVP im Europäischen Parlament Orbán Glaubwürdigkeit und Akzeptanz verliehen, weil Fidesz weiter in einer angeblich etablierten Gruppe demokratischer Parteien Mitglied sein konnte. Einige Parteien in der EVP haben nun gegen den letzten Schachzug von Fidesz Protest eingelegt. Doch zwei der größten und einflußreichsten Mitglieder – die deutsche CDU/CSU sowie Frankreichs Les Républicains - haben sich nicht angeschlossen. 

EVP-Präsident Tusk, ein Mann mit einer stolzen Biographie im Kampf gegen die Diktatur in Polen, weiß genau, dass er einem Monster hilft. In einem Interview mit Der Spiegel sagte er, ein notorischer Rechtsexperte der Nazis wäre stolz auf Orbán gewesen. Tusk schrieb auch einen Brief, in dem er den Ausschluss von Fidesz aus der Gruppe fordert. Doch gleichzeitig bleibt er an der Spitze der Allianz, obwohl Fidesz weiter dort Mitglied ist.

Von der Leyens eigene Geschichte mit der EVP (und der CDU) machen die Dinge auch nicht viel besser. Sie ist offensichtlich nicht in der Lage, die größte Herausforderung für die Demokratie in der EU seit ihrer Gründung anzugehen. Andere vor ihr – wie ihr unmittelbarer Vorgänger als Präsident der Kommission, Jean-Claude Juncker, auch von der EVP – haben nur hinter vorgehaltener Hand Orbáns Attacken gegen die Demokratie angesprochen. Trotz der Erfolglosigkeit dieses vorsichtigen Bittens haben weder von der Leyen noch Juncker offensichtlich gelernt, dass Schwäche für Diktatoren eine Wohltat ist.    

Andere führende Politiker in der EU, die auch autoritäre Züge haben, nehmen sehr wohl die Rückgratlosigkeit der EU wahr. Die Regierungspartei in Polen, die Fidesz lange Zeit als ihr Vorbild angesehen hat, untergräbt weiter die Unabhängigkeit der Justiz, während in Bulgarien die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird.

Der Zerfall demokratischer Werte geht immer weiter, wenn er nicht auf Widerstand stößt. Möchtegern-Diktatoren setzen auf Schwäche. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen sich jetzt fragen: Ist die EU lediglich ein Handelsblock oder auch ein Club von Demokratien? Früher war die Antwort klar – heute leider nicht mehr.

Zehn Millionen EU-Bürger leben jetzt unter einer autoritären Herrschaft. Wie viele mehr müssen noch ihre Freiheit verlieren, bevor die EU-Chefs dem endlich ein Ende setzen?

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