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YouTube, eine Tochtergesellschaft von Google, verwendet nach eigenen Angaben die neueste Technologie, um Millionen von hochgeladenen Inhalten zu identifizieren und zu entfernen. Das betrifft gewaltverherrlichende und extremistische Inhalte, Hassrede sowie Spam, Scam und irreführende Informationen. © 2017 Jaap Arriens/NurPhoto via Getty Images

Social-Media-Plattformen entfernen Online-Inhalte, die sie als terroristisch, gewaltverherrlichend oder hasserfüllt einstufen. Dadurch wird die potenzielle Nutzung dieser Inhalte zur Untersuchung schwerer Verbrechen, einschließlich Kriegsverbrechen, verhindert, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Es ist zwar verständlich, dass die Plattformen Inhalte entfernen, die zu Gewalt aufstacheln oder diese fördern. Doch sollte hierbei sichergestellt werden, dass das Material archiviert wird, so dass es gegebenenfalls dazu verwendet werden kann, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Der 42-seitige Bericht „‘Video Unavailable‘: Social Media Platforms Remove Evidence of War Crimes” fordert alle Beteiligten, auch Social-Media-Plattformen, dazu auf, sich zusammenzuschließen, um einen unabhängigen Mechanismus zu entwickeln, so dass potenzielle Beweise für schwerwiegende Verbrechen erhalten bleiben. Alle Beteiligten sollten sicherstellen, dass die Inhalte für nationale und internationale Strafermittlungen sowie für Recherchen von Nichtregierungsorganisationen, Journalisten und Akademikern zur Verfügung stehen. Bereits seit 2017 drängen Menschenrechtsgruppen Social-Media Unternehmen dazu, die Transparenz und Rechenschaftspflicht im Zusammenhang mit der Entfernung von Inhalten zu verbessern.

„Einige der Inhalte, die Facebook, YouTube und andere Plattformen entfernen, sind entscheidende und unersetzliche Belege für Menschenrechtsverletzungen“, sagte Belkis Wille, Researcherin für Krisenregionen bei Human Rights Watch. „Da sich Staatsanwälte, Forscher und Journalisten zunehmend auf Fotos und Videos verlassen, die öffentlich in sozialen Medien gepostet werden, sollten diese Plattformen mehr tun, damit der Zugang zu potenziellen Beweisen für schwerwiegende Verbrechen erhalten bleibt.”

Soziale Medieninhalte, insbesondere Fotos und Videos, die von Tätern, Opfern und Zeugen von Menschenrechtsverletzungen gepostet werden, sind bei einigen Strafverfolgungen von Kriegsverbrechen und anderen schweren Verbrechen, auch durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und im Rahmen nationaler Verfahren in Europa, zunehmend in den Mittelpunkt gerückt. Diese Inhalte helfen auch den Medien und der Zivilgesellschaft bei der Dokumentation von Gräueltaten und anderen Menschenrechtsverletzungen, wie z.B. einem Chemiewaffenangriff in Syrien, der brutalen Niederschlagung von Protesten durch Sicherheitskräfte im Sudan und Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten.

Für diesen Bericht befragte Human Rights Watch sieben Personen, die in zivilgesellschaftlichen Organisationen tätig sind, drei Rechtsanwälte, zwei Archivare, einen Statistiker, zwei Journalisten, einen ehemaligen Staatsanwalt mit Erfahrung an internationalen Gerichtshöfen, fünf Personen, die an internationalen Ermittlungen beteiligt sind, sowie drei nationale Strafverfolgungsbeamte, einen Beamten der Europäischen Union und ein Mitglied des Europäischen Parlaments.

Zudem wurden Facebook-, Twitter- und YouTube-Inhalte geprüft, die Human Rights Watch seit 2007 in seinen Berichten zitiert hat, um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen zu untermauern. Von insgesamt 5.396 Inhalten, auf die in 4.739 Berichten Bezug genommen wurde (die überwiegende Mehrheit wurde innerhalb der letzten fünf Jahre veröffentlicht), wurden 619 (oder 11 Prozent) entfernt.

In Briefen an Facebook, Twitter und Google, die im Mai 2020 verschickt wurden, gab Human Rights Watch die entsprechenden Links zu den Inhalten an, die entfernt worden waren. Zudem wurden die Unternehmen gefragt, ob Human Rights Watch zu Archivierungszwecken erneut Zugang zu den Inhalten erhalten könne. Keines der Unternehmen kam dieser Bitte nach.

In den letzten Jahren haben Social-Media-Unternehmen wie Facebook, YouTube und Twitter ihre Bemühungen verstärkt, Beiträge von ihren Plattformen zu entfernen, die ihrer Meinung nach gegen ihre Vorgaben, die gemeinschaftlichen Leitlinien oder ihre Nutzungsbedingungen verstoßen. Dazu gehören Inhalte, die als terroristisch oder gewaltverherrlichend eingestuft werden, Hassreden, hassgetriebenes Verhalten und Gewaltandrohungen.

Die Unternehmen entfernen Beiträge, die von Nutzern markiert und von Inhaltsmoderatoren geprüft werden. Zunehmend verwenden sie aber auch Algorithmen, um anstößige Beiträge zu identifizieren und zu entfernen. In einigen Fällen geschieht dies so schnell, dass bisweilen Inhalte entfernt werden, bevor sie überhaupt von Nutzern gesehen wurden. Regierungen weltweit haben diesen Trend gefördert und die Unternehmen aufgefordert, gefährliche Inhalte schnellstmöglich zu entfernen. Es ist unklar, ob und wie lange Social-Media-Unternehmen verschiedene Arten von Inhalten speichern, die sie blockieren oder von ihren Websites entfernen.

Unternehmen haben das Recht, Inhalte, die zu Gewalt aufstacheln, Einzelpersonen auf andere Weise schaden oder die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung gefährden könnten, umgehend offline zu nehmen, solange die von ihnen angewandten Standards mit den internationalen Menschenrechten und den Grundsätzen eines fairen Verfahrens übereinstimmen. Die permanente Entfernung solcher Inhalte kann jedoch verhindern, dass sie für strafrechtliche Ermittlungen verfügbar sind und somit nicht genutzt werden können, um Verantwortliche für Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.  

Es gibt noch keinen Mechanismus zur Aufbewahrung und Archivierung von entfernten Inhalten in sozialen Medien, welche entscheidende Beweise für Menschenrechtsverletzungen liefern könnten. Ferner gibt es keinen Mechanismus, der denjenigen Zugang gewährleistet, die internationale Verbrechen untersuchen. In den meisten Ländern können die nationalen Strafverfolgungsbehörden Social-Media-Unternehmen mittels Durchsuchungsbefehlen, Vorladungen und Gerichtsbeschlüssen zur Herausgabe der Inhalte zwingen. Aber internationale Ermittler haben nur begrenzte Möglichkeiten, auf die Inhalte zuzugreifen, weil ihnen die entsprechenden Befugnisse fehlen.  

Unabhängige Organisationen und Journalisten haben stets eine wichtige Rolle bei der Dokumentation von Gräueltaten überall auf der Welt gespielt, vor allem in Fällen, in denen keine Untersuchungen durch die jeweiligen Justizbehörden stattfanden. In einigen Fällen hat diese Dokumentation zu Gerichtsverfahren geführt. Diese Organisationen haben jedoch auch nicht die Möglichkeit, auf entfernte Inhalte zuzugreifen, und ebenso wie Strafermittler erfahren sie nichts von Inhalten, die durch automatisierte Systeme entfernt wurden, bevor sie überhaupt für Nutzer sichtbar waren.

Ein europäischer Strafverfolgungsbeamter, der Kriegsverbrechen untersucht, sagte gegenüber Human Rights Watch, dass „entfernte Inhalte mittlerweile zu meinem Arbeitsalltag gehören. Ich werde ständig mit potenziell entscheidenden Beweisen konfrontiert, auf die ich nicht mehr zugreifen kann.“

Einzelpersonen für schwere Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, kann eine abschreckende Wirkung für künftige Menschenrechtsverletzungen haben und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit fördern. Bemühungen um eine strafrechtliche Verfolgung können auch dazu beitragen, die Würde der Opfer wiederherzustellen, indem ihr Leid anerkannt wird. Ebenso können Ereignisse historisch dokumentiert werden, was vor Revisionismus durch diejenigen schützen kann, die leugnen, dass Gräueltaten begangen wurden. Das Völkerrecht verpflichtet Staaten, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Social-Media-Unternehmen und alle relevanten Interessengruppen gemeinsam einen Plan entwickeln für einen unabhängigen Mechanismus, um Inhalte von Social-Media-Plattformen aufzubewahren und zu archivieren. In einem solchen Archiv sollten die Inhalte entsprechend sortiert werden und der Zugang zu Forschungs- und Ermittlungszwecken sollte - im Einklang mit den Menschenrechts- und Datenschutzstandards - gewährleistet werden.

Parallel zu diesen Bemühungen sollten Social-Media-Plattformen für mehr Transparenz sorgen, wenn es um ihre bestehenden Verfahren zur Entfernung von Inhalten, auch durch den Einsatz von Algorithmen, geht. Sie sollten sicherstellen, dass ihre eigenen Systeme nicht leichtfertig oder voreingenommen vorgehen und dass sie sinnvolle Möglichkeiten bieten, gegen die Entfernung von Inhalten Einspruch zu erheben.

„Wir sind uns bewusst, dass die Aufgabe für Social-Media-Unternehmen nicht einfach ist - einschließlich der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Meinungsfreiheit, der Privatsphäre und der Entfernung von Inhalten, die ernsthaften Schaden anrichten können“, sagte Wille. „Konsultationen, die sich auf die Erfahrungen anderer historischer Archive stützen, könnten zu einem wahren Durchbruch führen. Sie könnten den Plattformen dabei helfen, die Redefreiheit und die öffentliche Sicherheit zu schützen und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Bemühungen um Rechenschaftspflicht nicht behindert werden.”

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