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© 2014 Andreas Harsano

Als die asiatische Wirtschaftskrise im Juli 1997 Indonesien traf, begann ich dort über das Verschwinden von Grundnahrungsmitteln von den Märkten und die Niederschlagung von Aufständen zu berichten. Für meine journalistische Tätigkeit bereiste ich viele Teile Indonesiens, das Land mit der weltweit viertgrößten Bevölkerung. Im Mai 1998 trat Präsident Suharto nach 33 Jahren an der Macht zurück. Doch die Gewalt nahm weiter zu, da viele ethnische und religiöse Gruppen versuchten, vom nationalen Zentrum Java – sowohl Suharto als auch sein Vorgänger Sukarno zentralisierten dort die Regierung seit den 1950er Jahren – politische und wirtschaftliche Zugeständnisse zu erlangen.

Auf der Insel Sumatra organisierten Freiheitskämpfer aus Aceh ihre Zeremonien mit offen getragenen AK-47, wobei es häufig zu tödlichen Zusammenstößen mit dem indonesischen Militär kam. Auf der Insel Kalimantan wurden mindestens 6.500 Angehörige der ethnischen Minderheit der Madures*innen massakriert, als rivalisierende ethnische Dayak und malaiische Kämpfer ihre Muskeln spielen ließen und mehr Mitsprache bei der Regierung der an natürlichen Ressourcen reichen Insel forderten. Auf der Insel Sulawesi brachen Spannungen um den Poso-See aus, bei denen 600 Menschen durch die Gewalt zwischen Muslimen und Christen getötet wurden. Osttimor wurde faktisch niedergebrannt, nachdem Indonesien im August 1999 im Referendum verloren hatte, was das Tor zur Geschichte öffnete und die winzige Nation zu einem neuen souveränen Staat machte. In den Provinzen Papua und West-Papua wurde die staatliche Repression gegen die indigene Bevölkerung mit neuen Waldkonzessionen und Bergbaubetrieben einfach fortgesetzt. Die größten Gewalttätigkeiten fanden jedoch auf den Molukken statt, wo christliche Milizen gegen muslimische Dschihadisten kämpften, an denen eine große salafistische Gruppe beteiligt war, die mehr als 5.000 Kämpfer aus Java entsandte. Mehrere Afghanistan-Kriegsveteranen, darunter Angehörige von Al-Qaida, begaben sich ebenfalls auf die Molukken. Dabei wurden zwischen 1999 und 2005 mindestens 25.000 Menschen getötet. Insgesamt verloren in dieser Gewaltperiode in Indonesien mindestens 90.000 Menschen ihr Leben.

In Jakarta unterdessen forderten Studentenprotestler weiterhin „Reformasi“.[1]Es war der schwierigste Schlachtruf überhaupt. Denn leider wusste die Welt nichts von der Gewalt, die in Indonesien grassierte.

Al-Qaida verübten die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington und löste damit die von den Vereinigten Staaten geführten Kriege in Afghanistan und im Irak aus. Der arabische Frühling und der Krieg in Syrien und Kriege anderswo im Nahen Osten zogen die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich.

Das erinnerte mich daran, wie der Vietnamkrieg auch die Massaker von 1965-69 überschattet hatte, die in Indonesien an Kommunist*innen verübt wurden, bei denen rund eine Million Menschen getötet und die damals drittgrößte kommunistische Partei der Welt (nach denen in China und der Sowjetunion) verboten wurden. General Suharto stieg nach diesen Massenmorden – den größten in der Geschichte Indonesiens – zum Präsidenten auf.

 Die ihm nachfolgenden Präsident*innen haben es bisher versäumt, mit diesen groben Menschenrechtsverletzungen adäquat umzugehen, was eine Kultur der Straflosigkeit und Gewalt förderte. Es sollte Beobachter*innen folglich nicht schockieren, dass auch nach Suhartos Abgang Massengewalt stattfand.

Dennoch, der Übergangspräsident B.J. Habibie ließ 1999 ein UN-Referendum in Osttimor zu. Präsident Abdurrahman Wahid hob das Verbot der chinesischen Sprache, der chinesischen Schriftzeichen und des Konfuzianismus auf. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono stimmte einer von der Europäischen Union geförderten Friedensverhandlung über Aceh im Jahr 2005 zu.

Im Jahr 2001 verabschiedete das indonesische Parlament das Gesetz über die lokale Regierungsführung und dezentralisierte einen Großteil der Zentralbehörden in die Provinzen und Regentschaften. Das Gesetz besagt, dass sechs Sektoren weiterhin in der Zuständigkeit der Zentralregierung bleiben: auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung, Polizei, Justiz, Steuer- und Währungsangelegenheiten sowie religiöse Angelegenheiten. Aber die Verantwortung für alles andere, von der Vergabe der Forstkonzessionen bis zur Verwaltung des Bildungswesens, wurde den Provinzbehörden übertragen.

Die Einführung der islamischen Scharia – eine Idee die seit 1945 diskutiert wird – bekam im Zuge dieses Gesetzesvorhabens Aufwind und verleitete muslimische Politiker überwiegend muslimischer Provinzen, Verordnungen zu erlassen, die „islamischen Werten“ entsprechen. Yudhoyono, der zwischen 2004 und 2014 regierte, kam diesen Forderungen entgegen und ignorierte dabei die Beschränkungen religiöser Angelegenheiten im Autonomiegesetz. Seine Regierung stärkte die BlasphemieRechtsabteilung innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft, wodurch es innerhalb eines Jahrzehnts zur Verfolgung und Inhaftierung von 125 Personen wegen Blasphemie kam – verglichen mit den zehn Fällen, seit Sukarno 1965 das Blasphemie-Gesetz eingeführt hatte, entspricht das einem steilen Anstieg.

Das Blasphemiegesetz erkennt in Indonesien nur sechs Religionen an: Islam, Protestantismus, Katholizismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Unter der Regierung Yudhoyono wurde es auch erweitert, um kleinere nichtislamische sunnitische Minderheiten wie Ahmadiyah und Schiiten zu diskriminieren. Im Jahr 2016 wurde eine Ableitung des Blasphemiegesetzes benutzt, um die gewaltsame Vertreibung von mehr als 7.000 Mitgliedern der Religionsgemeinschaft Gafatar aus ihren Bauernhäusern auf der Insel Kalimantan zu erzwingen.[2] Das Blasphemiegesetz wurde zu einer politischen Waffe, um Muslime zu mobilisieren. So auch bei den Gouverneurswahlen 2017 in Jakarta, als mehr als 500.000 muslimische Demonstrierende die Regierung aufforderten, den bisherigen Gouverneur von Jakarta, Basuki Purnama, der selbst Christ ist, strafrechtlich zu verfolgen. Ihm wurde auf Grundlage eines manipulierten Videos vorgeworfen, den Koran beleidigt zu haben.[3] Er verlor die Wahl und landete für zwei Jahre im Gefängnis.

Im Jahr 2006 führte die Regierung Yudhoyono auch die Regelung der „religiösen Harmonie“ ein, die das Verfassungsprinzip der „Religionsfreiheit“ ersetzte. Das Prinzip der „religiösen Harmonie“ besteht darin, dass die Mehrheit das Vetorecht über die Minderheiten hat. Seine Regierung richtete in jeder Provinz, Stadt und Regentschaft sogenannte „Foren der religiösen Harmonie“ als „Beratungsgremien“ ein, um neue Gotteshäuser und andere religiöse Angelegenheiten zu genehmigen. Die Zusammensetzung dieser Foren sollte proportional zur Zusammensetzung der sechs Religionen sein, was in der Praxis die Diskriminierung von Minderheiten verschärft. Dies führte in einem Jahrzehnt zur Schließung von mehr als 1.000 Kirchen in ganz Indonesien.

Anzahl der Gotteshäuser in Indonesien 2010

 

Muslimisch Moschee

Protestantisch Kirche

Katholisch Kirche

Hindu Tempel

Buddhistisch Tempel

Konfuzianisch Tempel

 

Total

243.199

47.106

11.827

6.417

2.290

707

311.546

Prozent

78,06

15,12

3,80

2,06

0,74

0,23

 

Quelle: Indonesiens Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Eine laufende Zählung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten, bei der Drohnen und Fotos verwendet werden, hat mindestens 554.152 Moscheen registriert. Die Zählung begann 2013. Die Zahl deutet darauf hin, dass sich die Zahl der Moscheen in einem Jahrzehnt mehr als verdoppelt hat.

 

Die Verwaltung von Yudhoyono tolerierte es, dass lokale Politiker*innen diskriminierende Vorschriften gegen Frauen und Mädchen verfassten. Im Jahr 2016 stellte die Nationale Kommission Indonesiens zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (Komnas Perempuan) die Existenz von mehr als 400 diskriminierenden nationalen und lokalen Verordnungen fest, die Frauen schadeten. Darunter auch der Zwang für Frauen und Mädchen, in Regierungsgebäuden, Schulen oder an anderen öffentlichen Orten Hijab zu tragen. Daneben verbieten ihnen die Hijab-Vorschriften das Tragen eng anliegender Kleidung und verlangen, dass sie ihren Körper außer Händen, Füßen und Gesicht bedecken. Außerdem gehören Ausgangssperren, nach Geschlechtern getrennte Sitzbereiche und weitere Einschränkungen zu den Diskriminierungserfahrungen von Frauen und Mädchen.

Einige Provinzen und Regentschaften haben lokale Verordnungen eingeführt, die auch nichtmuslimische Mädchen zum Tragen eines Hijabs zwingen, wie zum Beispiel West-Sumatra und Aceh auf Sumatra sowie Yogyakarta und Banyuwangi auf Java. Einige Politiker argumentierten, dass nicht-muslimische Schulmädchen sich an die muslimische Mehrheit „anpassen“ sollten. Auf der Insel Lombok forderte ein Regent sogar muslimische Beamtinnen auf, den Niqab zu tragen – einen vollständigen Schleier, der das Gesicht, außer den Augen bedeckt – sowie lange Kleider, die ihre Körperformen nicht offenbaren.

Grobe Menschenrechtsverletzungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung von Präsident Sukarno 1945 begangen wurden, einschließlich der Massaker von 1965-69, sowie ethnische und religiöse Gewalt nach dem Sturz von Präsident Suharto wurden nicht angesprochen. Präsident Yudhoyono vermied auch eine Untersuchung der UNO über Missbräuche in Osttimor. Er ließ nur rudimentäre Gerichtsverfahren gegen einige örtliche Beamte zu, ohne indonesische Militär- und Polizeigeneräle anzugehen, die an den Plünderungen und Morden in Osttimor beteiligt waren.

Als Joko „Jokowi“ Widodo 2014 die Präsidentschaftswahlen gewann, versprach er „vermisste Personen“, darunter den berühmten Dichter und Dissidenten Wiji Thukul, zu finden und religiöse Toleranz zu fördern. Seine Regierung organisierte 2015 ein Symposium über die Massaker von 1965-69 und ließ politische Gefangene aus Papua und den Molukken frei, aber er hörte an dieser Stelle auf. Er unternahm nichts, um diskriminierende Regelungen gegen Frauen und Mädchen oder religiöse Minderheiten aufzuheben. Seine Regierung verhaftete bald darauf erneut papuanische und molukkische Aktivist*innen und setzte damit die jahrzehntelange willkürliche Inhaftierung politischer Gefangener fort. Jokowi tolerierte auch die Zunahme diskriminierender Regelungen gegen LGBT (lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle) Personen. Jokowi und seine Demokratische Partei des Kampfes Indonesiens (Partai Demokrasi Indonesia Perjuangan, PDIP) entschieden sich dafür, die Staatsideologie „Pancasila“ zur Förderung der religiösen Toleranz einzusetzen. Die Pancasila war ein politischer Kompromiss, der während der Unabhängigkeitserklärung 1945 geschlossen wurde. Dieser Kompromiss beinhaltet fünf Prinzipien für Indonesien und wurde in die Präambel der Verfassung aufgenommen. Der erste Grundsatz ist, dass die Republik Indonesien auf „dem Glauben an den Einen und Einzigen Gott basiert, mit der Verpflichtung zur Einhaltung des islamischen Rechts für Anhänger des Islam“.

Am 17. August 1945 argumentierten Delegierte aus Ostindonesien, zu denen Kalimantan, Sulawesi, Bali und die Molukken gehören, erfolgreich, dass der Scharia-Zusatz gestrichen werden müsse, da sie sich sonst Indonesien nicht anschließen würden. Andere muslimische Führungspersönlichkeiten ließen sich auf den Kompromiss ein, dass die Pancasila lediglich den Ausdruck „Glaube an den einen Gott“ beinhaltet.

Die Regime von Sukarno und Suharto benutzten den Begriff Pancasila jedoch, um die Ausschaltung ihrer Gegner zu rechtfertigen. Suharto benutzte die Pancasila, um die Massenmorde zu legitimieren. Eine der größten Milizen Indonesiens benutzt die Pancasila in ihrem Namen. Es ist keine Überraschung, dass einige muslimische Organisationen sich dem Vorhaben der PDIP widersetzen, ein Pancasila-Indoktrinationsgesetz einzuführen. Es ist offensichtlich nicht die Antwort auf die Beseitigung diskriminierender Regelungen und den Schutz der Menschenrechte.

Die Post-Suharto-Wahldemokratie hat dazu beigetragen, die ethnische und religiöse Gewalt zu verringern, aber die bürgerlichen Freiheiten, die Pressefreiheit, die Rechte der Frauen, die Rechte der Kinder, die Religionsfreiheit und die Rechte der Minderheiten sind im Niedergang begriffen.

Es sind einige zivilgesellschaftliche Bewegungen entstanden, wie z.B. unter dem Hashtag #ReformasiDikorupsi (die Reform wurde korrumpiert). Im Jahr 2019 protestierten Hunderttausende Studierende, indigener Bevölkerungsgruppen und Minderheiten, als das Parlament versuchte, ein neues Strafgesetzbuch mit noch diskriminierenderen Paragraphen zu verabschieden, die Rechte verletzen würden. Einige indonesische Studierende begannen, den Rassismus gegen die dunkelhäutige Bevölkerung Papuas wie die #BlackLivesMatter in den USA herauszufordern und organisierten beispiellose Proteste gegen die Kriminalisierung papuanischer Studierender und Aktivist*innen.

Die indonesische Führung muss aus den Versäumnissen der letzten sieben Jahrzehnte bei der Nichtbeachtung vergangener Menschenrechtsverletzungen lernen und verhindern, dass deren historische Lasten auf künftige Generationen abgewälzt werden.

 

 

[1] Die Jahre nach dem Sturz von Suharto werden gewöhnlich als Era Reformasi (Reformzeit) bezeichnet. Mit dem Ruf nach Reformasi! forderten die Protestierenden umfassende demokratische Reformen (Anm. d. Redaktion).

[2] https://www.hrw.org/news/2016/03/29/indonesia-persecution-%20gafatar-religious-group

[3] https://www.theguardian.com/world/2016/dec/12/jakarta-governor-ahoks-blasphemy-trial-all-you-need-to-know

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