Leben retten auf See

Eine zweiwöchige Rettungsmission mit SOS MEDITERRANEE

JUDITH SUNDERLAND Fotos von ANTHONY JEAN/SOS MEDITERRANEE

Männer lassen ihre Beine entlang eines überfüllten Schlauchbootes in internationalen Gewässern vor Libyen baumeln. 11. Oktober 2017.

Metalltürme aus Licht ragten aus dem Meer und Flammen stoben in den Mitternachtshimmel, als die Aquarius das Bouri-Feld, das größte Ölfeld im Mittelmeer, etwa 65 Seemeilen nördlich von Libyen erreichte. Ich saß mit gekreuzten Beinen an Deck dieses Rettungsschiffs und hörte einer Gruppe westafrikanischer Männer zu, die unerträgliche Geschichten von Gefangenschaft und Brutalität in Libyen erzählten, dem Land, aus dem sie gerade geflohen waren. Amadou kam zu einem Entschluss, der mit ernsthaftem Nicken der Runde bestätigt wurde: "Gott hat Libyen vor langer Zeit verlassen."

Die Aquarius, die von der Nichtregierungsorganisation SOS MEDITERRANEE gechartert wurde, um Migranten auf dem Weg nach Europa zu retten, war zum Ölfeld gefahren, um 36 Menschen - hauptsächlich Syrer und Ägypter – an Bord zu nehmen, die zuvor von einem Ölversorgungsschiff aufgesammelt worden waren. Von der Brücke der Aquarius aus erleuchtete ein Scheinwerfer das winzige Holzboot, das am Heck des Versorgungsschiffes angebunden war und wie ein Spielzeug auf dem schwarzen Wasser trieb.

Diese spektakuläre Kulisse zeigt eine grausame Realität. Das Mittelmeer ist die tödlichste Migrationsroute der Welt, mit mehr als 15.000 Toten seit 2014. In diesem Jahr sind bereits fast 3.000 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, darunter 26 nigerianische Mädchen in nur einem einzigen tragischen Unfall. Dass so viele bereit sind, ihr Leben zu riskieren, zeugt von ihrer Verzweiflung und ihrer Entschlossenheit, Verfolgung, Gewalt und Not in den Herkunftsregionen zu entkommen. Und es spricht Bände über die Brutalität gegenüber Flüchtlingen und Migranten in Libyen.

Die meisten Frauen, Männer und Kinder, die dieses Meer überqueren, stammen aus Subsahara-Afrika, aber auch Syrer, Bangladeschis, Marokkaner, Algerier und zunehmend Libyer nehmen diese heimtückische Reise auf sich. Einige fliehen vor Gewalt und Unterdrückung zu Hause, einschließlich Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung. Andere suchen wirtschaftliche Chancen und die Möglichkeit, ihre Familien zu unterstützen. Viele enden als Opfer von Menschenhandel und Missbrauch in Libyen; das schwindelerregende Ausmaß der Gewalt dort überzeugt viele, die sonst vielleicht geblieben wären, wieder zu fliehen.

Ich verbrachte zwei Wochen an Bord der Aquarius, die in internationalen Gewässern in der Nähe von Libyen patroullierte. Ich hatte Zeit mit der Crew über die Politik der Europäischen Union (EU) zu sprechen, die der Grund für diese Mittelmeermission ist. Während die Seeleute das Schiff am Laufen hielten, führten das Rettungsteam von SOS MEDITERRANEE und die medizinischen und humanitären Spezialisten von Médécins sans Frontières (MSF) aus Europa, Australien und den USA Übungen durch, um jederzeit für die Retttung von Leben auf See bereit zu sein.

Zehn lange Tage Anfang Oktober war völlig unkar, ob es überhaupt irgendwelche Rettungen geben würde. Ich wollte nicht, dass Leute sich in Gefahr brachten; ich wollte nur, dass unser Schiff dort ist, wenn sie es brauchen. Dann rettete die Aquarius 606 Menschen innerhalb von 36 Stunden.

Ein Kind kommt an Bord der Aquarius. 11. Oktober 2017.
Ein Kind kommt an Bord der Aquarius. 11. Oktober 2017.
Frauen an Bord der Aquarius nach ihre Rettung in internationalen Gewässern vor Libyen. 12. Oktober 2017.
Frauen an Bord der Aquarius nach ihre Rettung in internationalen Gewässern vor Libyen. 12. Oktober 2017.

Auf Patrouille im Mittelmeer

Seit 2014 haben Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine tödliche Lücke im Bereich der maritimen Rettungseinsätze geschlossen und patrouillieren in internationalen Gewässern in der Nähe der 12-Seemeilen-Linie, die die libyschen Hoheitsgewässer markiert – es ist auch das Gebiet, in dem überfüllte und seeuntüchtige Boote am häufigsten in Not geraten. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2017 haben neun NGOs 40 Prozent der Rettungen in der Region durchgeführt; immer unter Koordination des Maritime Rescue Coordination Centers der italienischen Regierung. Die meisten europäischen Regierungsschiffe auf Militär- oder Grenzpatrouille bleiben meist weiter von der libyschen Küste entfernt; sie führen Rettungen durch, wie es das Seerecht verlangt, aber es ist nicht ihre oberste Priorität.

 


 

NGOs patrouillieren in internationalen Gewässern, weit entfernt von der 12-Meilen Grenze, die die libyschen Hoheitsgewässer kennzeichnet, in denen überfüllte, seeuntaugliche Boote die meiste Unterstützung benötigen.

 

Zwischen dem 10. und 11. Oktober hatte die Aquarius 6 Rettungseinsätze und nahm 606 Menschen aus 25 verschiedenen Ländern an Bord.

 

Jetzt übernimmt die libysche Küstenwache – von Europa gestützt – die Kontrolle in internationalen Gewässern, obwohl sie nicht in der Lage ist, eine Rettungsleitstelle zu betreiben, wie es das Seerecht verlangt.

Als ich auf der Aquarius war, war SOS MEDITERRANEE eine von drei NGOs, die noch vor Ort waren. Die NGOs wurden durch politische Entscheidungen in europäischen Hauptstädten und Tripolis dazu gezwungen, viel weiter weg von libyschen Gewässern zu patrouillieren, und NGO-Mitarbeiter waren zunehmend über die Sicherheit in einem der unbeständigsten Regionen der Welt. Wicht besorgt. Wichtige Gruppen, darunter Ärzte ohne Grenzen, the Migrant Offshore Aid Station (MOAS) und Save the Children, haben ihre Missionen mit Berufung auf Sicherheitsbedenken und Einschränkungen unabhängiger humanitärer Hilfe im Mittelmeerraum eingestellt.

Nachdem 2015 mehr Menschen über das Mittelmeer gekommen waren, beschlossen die europäischen Regierungen Maßnahmen, durch die Menschen unter dem Deckmantel der Rettung von Menschenleben in katastrophalen Bedingungen festgehalten werden. Im Oktober 2016 begannen europäische Einheiten, Truppen der libyschen Küstenwache der Regierung der nationalen Einheit (GNA) zu trainieren, die zu einer der beiden miteinander konkurrierenden Allianzen gehört, die Regierungsansprüche in Libyen geltend machen. Im Februar beschleunigte Italien (mit Unterstützung der EU) die Bemühungen, libysche Einsatzkräfte in die Lage zu versetzen, Boote abzufangen und Menschen nach Libyen zurückzuführen. Erbarmungslos bemühten sie sich auch darum, die Fähigkeit der NGOs, lebenswichtige Such- und Rettungseinsätze durchzuführen, einzuschränken.

Zum Anhören anklicken

Audio icon

Madeleine Habib

SOS MEDITERRANEE

Madeleine Habib, Search-und-Rescue (SAR) Koordinatorin. Photograph © 2017 Judith Sunderland/Human Rights Watch


Italien lieferte vier Patrouillenboote an die GNA, die von den Vereinten Nationen unterstützt wird und in Tripolis sitzt, und signalisierte die Bereitschaft, die Koordination der Rettungsoperationen an die libyschen Streitkräfte zu übergeben und Marineschiffe in libyschen Gewässern einzusetzen, um Boote mit Migranten zu stoppen. Dann erließ die italienische Regierung einen Verhaltenskodex für NGOs - eine PR-Maßnahme, durch die der Eindruck vermittelt wurde, dass die NGOs kontrolliert werden müssten, und durch die auch deren Fähigkeit massiv eingeschränkt wurde, effektiv zu arbeiten. Dies geschah im Rahmen einer konzertierten Hetzkampagne, die von anti-Einwanderergruppen und einigen Medien angeführt wurde und durch die Behauptungen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, dass NGOs als Anziehungskraft, als "Pull-Faktor" für Migranten dienen würden, weiter befeuert wurden. Zwei italienische Staatsanwälte unterstellten den NGOs Zusammenarbeit mit Schmugglern; einer leitete eine Untersuchung ein, die zur Beschlagnahmung eines deutschen NGO-Rettungsschiffes führte.

Bald darauf erklärte die GNA ein mehr als 74 Seemeilen umfassendes Gebiet zum nationalen Such- und Rettungsgebiet und warnte die NGOs, dass sie für den Aufenthalt in dieser Zone eine Genehmigung bräuchten. Einige Tage später näherte sich in internationalen Gewässern ein libysches Küstenwachschiff einem spanischen Rettungsschiff und drohte, es "anzupeilen", wenn es nicht nach Tripolis segelte. Erst kürzlich hat die deutsche Nichtregierungsorganisation Sea-Watch bekannt gegeben, dass bei einer Rettungsaktion am 6. November mindestens fünf Menschen aufgrund des "gewalttätigen und rücksichtslosen Verhaltens" der libyschen Einsatzkräfte ertranken.

Die Europäische Union unterstützt diese Kräfte in dem Wissen, dass die GNA nicht alle libyschen Einheiten kontrolliert, die an der Westküste agieren, und trotz Beweise, dass es Absprachen zwischen bewaffneten Milizen, Einheiten der Küstenwachen und Menschenschmuggel-Netzwerken gibt. Ein Expertengremium der Vereinten Nationen dokumentierte umfangreiche Verbindungen zwischen den Gruppen in Sebratha, Zawiyah und Zuwara, der Stadt an der Westküste Libyens, von der die meisten Abfahrten stattfinden. Seit August unterstützt Italien die libyschen Kräfte in ihren Hoheitsgewässern.

Ich habe mit mehreren Leuten an Bord der Aquarius gesprochen, deren frühere Versuche aus Libyen zu fliehen, vereitelt worden waren. Doch nur wenige wussten, wer ihnen den Weg versperrt oder sie auf See abgefangen hatte.

Photograph of Adam, a 24-year-old from Darfur.

Adam, ein 24-jähriger Sudanese, an Bord der Aquarius. 12. Oktober 2017.


Adam, ein 24-Jähriger aus Darfur, wurde im März an einem libyschen Strand festgenommen bevor sein Boot ablegen konnte. "Die Küstenwache kam aus allen Richtungen und fing an, zu schießen ... Wir versuchten, zu entkommen, aber wir konnten nicht, weil sie von überall her schossen. Sie sagten, sie seien die Küstenwache." Er wurde 25 Tage lang in einem Gefängnis festgehalten - er glaubt, es sei in Sebratha oder Zuwara gewesen – wo er kopfüber aufgehängt und mit Elektroschocks gefoltert wurde, bis er für seine Freilassung bezahlen konnte. Als er es im April oder Mai noch einmal versuchte, wurde sein Boot kurz nach dem Start von Sebratha abgefangen. Die Männer trugen nun blaue Uniformen, auf denen in arabisch "libysche Armee" stand. Diesmal verbrachte er einen Monat in Gefangenschaft, bevor er für seine Freilassung zahlen konnte.

Eine der großen Fragen auf der Aquarius war, ob wir auf die libysche Küstenwache stoßen würden. Im September fanden vier Rettungen unter libyscher statt unter italienischer Koordination statt. Laut Madeleine Habib, Rettungskoordinator an Bord der Aquarius, konnten die libyschen Einsatzkräfte die Rettungen nicht durchführen, so dass die Aquarius schlussendlich die Erlaubnis bekam, die Menschen an Bord zu nehmen und sie sicher in Italien an Land zu bringen.

Die Crew sagte, dass Rettungen unter libyscher Koordination mehr Zeit beanspruchten; die Teams der Aquarius, die Festrumpfschlauchboote (RHIBs) benutzen, um Menschen sicher an Bord zu bringen, müssen auf eine Genehmigung warten, bevor sie mit der Rettung beginnen können. Max Avis, stellvertretender Rettungskoordinator, beschrieb den nervenaufreibenden Einsatz für die Crews, die dort draußen, in Nähe der überfüllten Schlauchboote, auf ihren RHIBs warteten und versuchten, die Menschen zu beruhigen, nichtwissend ob die Geretteten später nach Libyen zurückgebracht werden würden.

Am 31. Oktober, zwei Wochen nachdem ich von Bord gegangen war, musste die Crew der Aquarius dabei zusehen, wie Einsatzkräfte der libyschen Küstenwache zwei Schlauchboote mit fast 300 Menschen abfingen. „Widerlich“ war das Wort, das Habib in ihrer Email verwendete. „Wir hätten die Leute ganz einfach in Sicherheit bringen können, stattdessen mussten wir hilflos zusehen, wie sie in Bedingungen zurückkehren mussten, die wir nur als grausame und unmenschliche Haft bezeichnen können.“

Es gab davor sowie danach weitere Ereignisse, bei denen europäische Schiffe mit ansehen mussten, wie Einsatzkräfte der libyschen Küstenwache Boote in internationalen Gewässern abfingen.

CLICK TO LISTEN   sound-icon-small
Unsere größte Sorge gilt den Menschen, die unter katastrophalen Bedingungen in Libyen festsitzen.
Judith Sunderland,
Associate Director, Abteilung Europa und Zentralasien,
Human Rights Watch

Die große Gefahr von Menschenrechtsverletzungen ist der Grund, warum es für Schiffe unter europäischer Flagge rechtswidrig ist, Menschen nach Libyen zurückzubringen. Und trotzdem vereinbarte Italien im Jahr 2009 einen Deal mit dem damaligen libyschen Staatschef Muammar Gaddafi, Migrantenboote im Mittelmeer abzufangen und auf See an die Libyer zu übergeben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigte im Jahr 2012, was Menschenrechtsgruppen bereits behauptet hatten: Dies war eine eindeutige Verletzung des internationalen Verbotes, jemanden an einen Ort zurück zu bringen, an dem Folter oder Misshandlung drohen.

Italien und andere europäische Länder denken offensichtlich, dass sie diese rechtliche und moralische Verpflichtung umgehen können, indem sie die Illusion schaffen, dass die Libyer die Boote auf menschenwürdige Weise stoppen könnten. Die europäische Politik ist darauf ausgelegt, die Fähigkeit Libyens aufzubauen, Leben zu retten und Hoheitsgewalt auszuüben, obwohl es reichlich Belege dafür gibt, dass sich die libyschen Streitkräfte fahrlässig verhalten und die zurückgeschickten Personen schrecklichen Misshandlungen ausgesetzt sind.

Diese Argumente werden fadenscheiniger, und es scheint immer mehr so, als ob Europa bereit ist, mitschuldig an Misshandlungen inb Libyen zu sein. Wenn man das Seerecht und die Flüchtlings- sowie Menschenrechte zusammenfügt, bekommt man ein sehr einfaches Prinzip: Es ist falsch, Beihilfe zu Leid zu leisten. Es ist falsch, Rettungen durch fähige Profis einzuschränken. Es ist falsch, Menschen, von denen man weiß, dass sie fahrlässig und unzuverlässig sind, Verantwortung für Menschenleben auf See zu übertragen. Es ist falsch, dazu beizutragen, Frauen, Männer und Kinder an einen Ort zurückzuschicken, wo ihnen nahezu sicher Schmerz und Leid widerfährt. Es ist nicht nur falsch, sondern auch rechtswidrig, dass eine Regierung anderen hilft und sie zu falschen Handlungen befähigt.

"Keine Gnade in Libyen"

Auf einem Gipfeltreffen in Brüssel Mitte Oktober feierten die EU-Chefs das, was sie als Beweis für das Funktionieren ihres Ansatzes ansahen. EU-Ratspräsident Donald Tusk verkündete plakativ: "Wir haben eine echte Chance, die zentrale Mittelmeerroute zu schließen." Sie verwiesen auf einen dramatischen 70-prozentigen Rückgang der Abfahrten im Vergleich zum Sommer 2016. Jegliche Klarstellung, dass weniger Abfahrten auch bedeuten, dass Tausende mehr Menschen im gesetzlosen, konfliktreichen Libyen gefangen sind, fehlte.

Zum Anhören anklicken   sound-icon-small
Wie sie von Libyen erzählen und wie sie dort behandelt wurden... Das klingt wirklich nach Sklaverei.
Marcella Kraay,
Projekt-Koordinatorin an Bord der Aquarius, Ärzte ohne Grenzen

In Libyen herrschen seit 2014 bewaffnete Konflikte, die zu einem Zusammenbruch des wirtschaftlichen, politischen und juristischen Systems des Landes führten. Zwei verschiedene Regierungen konkurrieren um Legitimität, internationale Anerkennung und territoriale Kontrolle: die Tripolis GNA und die Interimsregierung, welche in den östlichen Städten al-Bayda und Tobruk sitzt. Die GNA hat nur begrenzte Kontrolle über die Schlüsselinstitutionen und nur nominale Kontrolle über die damit verbündeten Kräfte.

Im Laufe der Jahre haben Kollegen und ich mit Hunderten Asylsuchenden und anderen Migranten gesprochen, die in Libyen willkürlichen Verhaftungen, Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit ausgesetzt waren. Sie sind dieser Gewalt in offiziellen Haftanstalten ausgesetzt, die vorgeblich von der Stelle für die Bekämpfung illegaler Migration, die dem Innenministerium der GNA unterstellt ist, betrieben werden. Dasselbe gilt für die Bedingungen in Lagern von Milizen und Schmugglernetzwerken. Oft gibt es nur zwei Möglichkeiten zu entkommen: Lösegeld zahlen oder riskante Fluchtversuche. Zunehmend hören wir von Leuten, die von einer Miliz oder einem Schmuggelnetz an die nächste Miliz oder den nächsten Schmuggler weiterverkauft werden - eine Lehrbuchdefinition des Menschenhandels.

Viele, mit denen ich auf der Aquarius sprach, haben Horrorgeschichten von Brutalität und Zwangsarbeit in der Gefangenschaft von Schmugglern hinter sich.

Andere hatten Schmuggler bezahlt, um sie durch Libyen und auf Boote nach Europa zu bringen, wurden aber eingesperrt und gefoltert, bis sie mehr Geld bezahlten. Mustafa, ein 20-jähriger Somalier, verbrachte acht Monate in Bani Walid in Gefangenschaft und wurde dort gefoltert und isoliert: "Keine Besuche, keine Interviews, keine Gnade. Niemals", sagte er.

Wir wissen, dass offizielle Zentren der Stelle für die Bekämpfung illegaler Migration Orte des Elends und Missbrauchs sind. Wilfred aus Benin berichtete, Polizisten hätten ihn und andere Afrikaner in Tripolis verprügelt, ihre Handys genommen, sie als undokumentierte Migranten festgenommen und im Tajoura Center, einer offiziellen Hafteinrichtung der GNA-Kriminalpolizei, eingesperrt. Wilfred berichtete weiter, dass medizinische Team von Ärzte ohne Grenzen und Journalisten manchmal zu Besuch kamen, aber das Wachen ihn und andere, die mit ihnen sprachen, schlugen.

Der lange Arm Europas

Die europäischen Länder geben zweistellige Millionenbeträge für die Unterstützung von Migrationsprojekten in Libyen aus, hauptsächlich für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und die Internationale Organisation für Migration, die nur mit erheblichen Einschränkungen Haftanstalten betreten können. Sie benötigen weitaus mehr Ressourcen und politische Unterstützung von europäischen und anderen Regierungen, um willkürliche Inhaftierungen zu beenden und wenigstens die hilfsbedürftigsten Personen zu evakuieren.

Italien, eine ehemalige Kolonialmacht mit Interessen an libyschen Gas- und Ölressourcen, hat die Führung beim Schmieden neuer Partnerschaften und politischer Maßnahmen in Libyen übernommen. Die verwerfliche Pushback-Politik des Jahres 2009 wurde Ende 2013 durch die italienische Seenotrettungsmission Mare Nostrum abgelöst, die Zehntausenden Menschen im zentralen Mittelmeer das Leben rettete. Die EU trug nur wenig zur Finanzierung der 100-Millionen-Euro-Mission oder zur Aufnahme geretteter Flüchtlinge bei. Angesichts nationaler und europäischer Kritik, suspendierte Italien Mare Nostrum Ende 2014.

Seitdem koordiniert das Land jedoch praktisch alle Such- und Rettungsaktionen im zentralen Mittelmeer und weist italienische Häfen als sichere Orte für die Ankunft von Zehntausenden Menschen aus - 180.000 im Jahr 2016, im Jahr 2017 bisher mehr als 114.000. Von der Brücke der Aquarius aus beobachtete ich, wie ein Schiff der italienischen Küstenwache Dutzende von einem Schlauchboot rettete.

Zum Anhören anklicken

Audio icon

Judith Sunderland

Associate Director, Abteilung Europa und Zentralasien
Human Rights Watch

Ein Schiff der italienischen Küstenwache rettet ein Schlauchboot in internationalen Gewässern vor Libyen. 2. Oktober 2017.


Italien muss ohne große Hilfe von der EU zurechtkommen, und die Ankunft so vieler Menschen hat das Aufnahmesystem des Landes überlastet und eine politische Debatte, die von Fremdenfeindlichkeit geprägt ist, ausgelöst. Durch die EU-Asylvorschriften trägt Italien die Verantwortung für die Unterbringung, Versorgung etc. derer, die die italienische Küste erreichen. Im Jahr 2015 hat die EU einen Plan erarbeitet, dem zu Folge 35.000 Asylbewerber in andere Länder gebracht werden sollen. Bis November 2017 wurden nur 10.243 Menschen in anderen Mitgliedstaaten aufgenommen.

Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen im Frühjahr scheint die Regierung entschlossen zu sein, den Strom um jeden Preis einzudämmen, unter anderem indem der libyschen Küstenwachen ermöglicht wird, Menschen zurückzubringen. Im Dezember 2016 veröffentlichte die UNO einen belastenden Bericht zu Misshandlungen von Migranten in Libyen. Der UN-Menschenrechtsbeauftragte, Zeid Ra'ad Al Hussein, sagte kürzlich, die Situation sei "wenn überhaupt schlechter geworden" und bezeichnete die europäische Unterstützung der libysche Küstenwachen als "unmenschlich".

Die Welt auf der Aquarius

Am 10. Oktober änderte sich das Leben an Bord der Aquarius dramatisch. Alles begann mit einem Anruf des italienischen Koordinators um 4:30 Uhr, der das Schiff anwies, einem Holzboot mit 29 Personen an Bord, hauptsächlich Syrern, zu Hilfe zu kommen. Ein paar Stunden später rettete die Aquarius 144 Menschen von einem Schlauchboot und wurde daraufhin angewiesen, das Ölfeld Bouri anzusteuern, um gegen Mitternacht einen Transfer durchzuführen.

Am 11. Oktober gegen 6.45 Uhr entdeckte ein Besatzungsmitglied ein überfülltes Schlauchboot, als er mit einem Fernglas den Horizont absuchte. Bis 9.00 Uhr, wurden 130 weitere Personen an Bord genommen; die Italiener wiesen die Aquarius auf zwei weitere Schlauchboote in Seenot hin. Wir erreichten sie ungefähr zwei Stunden später und retteten 218 Menschen, darunter mehrere schwer Erkrankte. Später am Nachmittag übernahm die Aquarius 47 Menschen von der Vos Hestia, dem von Save the Children betriebenen Rettungsschiff.

Ein Holzboot mit 29 Passagieren, hauptsächlich Syrern, kurz vor der Rettung durch die Aquarius. 10. Oktober 2017.
Ein junger Syrer, der gemeinsam mit seiner schwangeren Frau reiste, bereitet sich darauf vor, in das Schnellboot der SOS MEDITERRANEE zu steigen, um auf die Aquarius gebracht zu werden. 10. Oktober 2017.
Die Crew von SOS MEDITERRANEE markiert ein Schlauboot mit Rettungsnummer und Datum. 11. Oktober 2017.
Rettungskräfte der SOS MEDITERRANEE helfen einer Somalierin von dem Festrumpfschlauchboot (RHIB), damit sie an Bord der Aquarius gelangen kann. 11. Oktober 2017.

Von links oben: Ein Holzboot mit 29 Passagieren, hauptsächlich Syrern, kurz vor der Rettung durch die Aquarius. 10. Oktober 2017; Ein junger Syrer, der gemeinsam mit seiner schwangeren Frau reiste, bereitet sich darauf vor, in das Schnellboot der SOS MEDITERRANEE zu steigen, um auf die Aquarius gebracht zu werden. 10. Oktober 2017; Die Crew von SOS MEDITERRANEE markiert ein Schlauboot mit Rettungsnummer und Datum. 11. Oktober 2017; Rettungskräfte der SOS MEDITERRANEE helfen einer Somalierin von dem Festrumpfschlauchboot (RHIB), damit sie an Bord der Aquarius gelangen kann. 11. Oktober 2017.

Am Ende dieses zweiten Tages unerlässlicher Rettungen befanden sich nun 606 Menschen aus 25 Ländern an Bord.

Rettungen auf See sind voller Emotionen. Sogar die Hartgesottenen sind berührt. Es ist außergewöhnlich, Zeuge der Freude und Erleichterung von Frauen, Männern und Kindern zu sein, die sich endlich in Sicherheit wissen. Männer und Frauen weinen offen, andere grinsen unaufhörlich, einige fallen auf die Knie im Gebet und mit Dank.

 


 

Ein Crewmitglied der Aquarius hilft einem Mann nach der Rettung auf das Schiff. 11. Oktober 2017.

 

Dragos Nicolae, Rettungskraft der SOS MEDITERRANEE, hilft einem kleinen Kind mit der Rettungsweste während eines Rettungseinsatzes in internationalen Gewässern vor Libyen. 11. Oktober 2017.

 

Zwei Männer umarmen sich nach ihrer Rettung durch die SOS MEDITERRANEE. 10. Oktober 2017.

 

Die offensichtlich Kranken werden in die Schiffsklinik gebracht. An Deck registriert das Team alle Männer und kontrolliert auch auf Krankheiten wie Krätze. Frauen und Kinder werden in einen Schutzraum gebracht, wo sie von einer Hebamme registriert werden, um sicherzugehen, dass schwangere und stillende Frauen identifiziert werden. Jeder wird durch farbige Armbänder gekennzeichnet - gelb für unbegleitete Minderjährige, blau für Gefährdete, rosa für Krätze - damit MSF sie an die jeweiligen Behörden an Land verweisen kann.

Wenn ich nicht bei den alltäglichen Dingen mit anpackte - Windeln verteilte, den Verkehr zu den Toiletten kontrollierte - navigierte ich entlang der überfüllten Unterkünfte und dem Deck, um mit so vielen Leuten wie möglich zu sprechen. So viele waren vor tief beunruhigenden Situationen zu Hause geflohen - aus Gewalt geprägten Länder wie Syrien, Sudan, Somalia und Eritrea. Jeder hatte traumatische Reisen und unsäglichen Missbrauch in Libyen erlebt. Manches waren kurze, zusammengeraffte Konversationen, die mir eher Ideen von Verletzlichkeit und Entschlossenheit gaben als harte Fakten. Timnit (ein Pseudonym), ein 17-jähriger Junge aus Eritrea, den ich fotografiert hatte, wie er lächelnd an Bord kam, erzählte mir in sehr gebrochenem Englisch, dass er Eritrea im Alter von 15 Jahren verlassen habe, um die Wehrpflicht zu umgehen.

Viele der am 11. Oktober geretteten Personen kamen aus Somalia und Eritrea und hatten lange Zeit in Libyen in Gefangenschaft verbracht.

Fawzia (ein Pseudonym), eine 17-jährige Somalierin, verbrachte nur zwei Monate in der Gefangenschaft von Schmugglern, sagte aber, dass andere ein, zwei oder sogar drei Jahre im gleichen Lager verbracht hatten. Sie fügte hinzu, dass eine stark ausgemergelte somalische Frau, die auf demselben Boot aus Libyen geflohen war, anderthalb Jahre in Gefangenschaft verbracht hatte. Ein junger Somalier mit einem freundlichen Gesicht wanderte mit leerem Blick um das Schiff, offenbar unfähig zu sprechen. Fawzia erklärte, er sei nach langer Gefangenschaft und Folter so geworden.

A child just arrived on board the Aquarius. October 2017.
Eine stark unterernährte Somalierin wird in die Schiffsklinik gebracht. 11. Oktober 2017.
Eine Frau hält ein fertiges Essenspaket in den Händen, während sich Mitglieder des Rettungsteams der SOS MEDITERRANEE mit anderen Geretteten an Bord der Aquarius unterhalten. 12. Oktober 2017.

Nachdem sie verwitwet war, zwang Fawzias Vater sie, wieder zu heiraten, ihre Mutter half ihr zu entkommen, schwanger, aber ohne ihre 21-Monate alte Tochter. „Ich will studieren, ich will mein Leben verändern. Es gibt nichts Gutes in Somalia. Kämpfe, keine Arbeit, kein Respekt für Frauen ", sagte sie.

Mustafa erzählte mir, warum er gegangen sei: „Keine Zukunft. Immer kämpfen. Menschen sterben." Zwei Tage nachdem wir gesprochen hatten, starben in Mogadischu mindestens 358 Menschen durch zwei Autobomben.

Ich verbrachte viel Zeit im „women’s shelter“, einem sicheren Ort, mit von bunten Zeichnungen bedeckten Wänden und dem privaten Beratungsraum der Hebamme am hintersten Ende. Mit 106 Frauen und Mädchen an Bord war es unglaublich voll, manchmal ungestüm, jeder Zentimeter besetzt von schlafenden, stillenden und sprechenden Frauen und kichernden Kindern. Ein schöner Ort, aber nicht förderlich für schmerzhafte Gespräche über die spezifischen Bedrohungen, mit denen Frauen auf diesen Reisen konfrontiert sind.

 


 

Frauen und Kinder sitzen im „green room“, einem Innenraum der zum „women’s shelter“ führt. 13. Oktober 2017.

 

Hanan, eine syrische Frau, sitzt im „women’s shelter“ an Bord der Aquarius, während Kinder aus ihrer sowie anderen syrischen Familien spielen. 13. Oktober 2017.



 




Eine MSF Hebamme untersucht ein eine Woche altes Mädchen namens Salimata von der Elfenbeinküste, das gemeinsam mit ihrer Mutter von einem überfüllten Schlauchboot in internationalen Gewässern vor Libyen gerettet wurde. 10. Oktober 2017.

 

Ein paar Tage bevor ich auf die Aquarius ging, sprach ich mit Raissa (Pseudonym), einer 23-jährigen Frau aus der Elfenbeinküste, die vor kurzem gerettet und nach Italien gebracht worden war. Sie weinte, als sie mir erzählte, dass die Schmuggler, die sie einen Monat in Bani Walid gefangen gehalten hatten, sie und die anderen Frauen wiederholt vergewaltigt hatten. Sie konnten das Geld, das die Schmuggler verlangten, nicht zusammenbringen. Ihr Mann wurde vor ihren Augen zu Tode geschlagen, sie gossen Benzin über ihren Arm und zündeten es an. Sie wurde nach Tripolis gebracht und einer anderen Gruppe übergeben, die sie auch wieder vergewaltigte.

Keine der Frauen auf der Aquarius erzählte mir, dass sie in Libyen vergewaltigt worden war. Sie alle sagten, sie wüssten von anderen Frauen, die vergewaltigt worden waren.

Bikou, 20, sagte, sie hätte ihre Heimat die Elfenbeinküste verlassen, weil ihr Onkel darauf bestanden habe, dass sie sich der Genitalverstümmelung aussetze und einen 40-jährigen Mann seiner Wahl heirate. „Ich möchte so viele Dinge tun. Ich will unabhängig sein," sagte sie. Sie zahlte, um nach Sebratha zu kommen, aber unterwegs in Sebha, einer großen Transitstadt im Süden Libyens, verkaufte ihr Schmuggler sie an eine andere Gruppe. „Ein Libyer hat versucht, mich zu vergewaltigen. Ich sagte ihm, es wäre besser, wenn er mich töte. Vielleicht hat er mich deshalb verkauft."

Sie hat es nach Sebratha geschafft, wo sie auch mit Hunderten Menschen gefangen gehalten wurde. „Wenn nachts die Lichter ausgingen, flüsterten Stimmen: ‚Frauen, versteckt euch. Die ... Jungs kommen.’“ Bikou sagte, die Gewalt, die sie erlebte, hatte eine tiefgreifende Wirkung. „Ich schämte mich für meine Haut, ich hatte das Gefühl, nichts wert zu sein."

Fawzia sagte, sie sei dem Schicksal vieler Frauen entkommen, die mit ihr in einem Schmugglerlager in Bani Walid festgehalten wurden. „Wenn ich nicht schwanger gewesen wäre, hätten sie das getan [sie vergewaltigt]. Ich habe Glück. So viele Mädchen, ja, aber weißt du, sie haben Angst zu sprechen." Sie fragte, ob andere in ihrer Gruppe mit mir sprechen würden; keine von ihnen war dazu bereit. Oft hindern Scham und Angst vor Stigmatisierung oder Vergeltung Frauen und Mädchen daran, über sexuelle Gewalt zu sprechen.

Ich hoffe, dass diese Frauen in Notunterkünften aufgenommen werden, in denen geschulte, einfühlsame Fachkräfte ihnen helfen werden – obwohl wir viele Berichte hören, dass gerade dies nicht passiert.

Ein Ort der Sicherheit

Am 13. Oktober dockte die Aquarius in Palermo an. In der Nacht zuvor war eine festliche Stimmung an Bord aufgekommen; die Leute sangen und unterhielten sich aufgeregt an Deck. Als die sizilianische Küste gegen 6 Uhr morgens in der Ferne deutlicher wurde, war fast jeder wach und schaute zum Horizont.

Als das Schiff anlegte, applaudierten die Leute an Bord sowie viele, die auf dem belebten Pier warteten. Die Landung dauerte Stunden, wobei alle in Gruppen organisiert wurden. Freiwillige verteilten Kleidung und Essen, Mitarbeiter des Roten Kreuzes führten ärztliche Kontrollen durch, UN-Flüchtlingsschutzbeauftragte gaben Auskunft über die Beantragung von Asyl, während das Personal von Save the Children unbegleitete Minderjährige betreute. Dann erfolgte noch eine vorläufige Anmeldung bei der Polizei, bevor Busse zu den Aufnahmezentren bestiegen wurden, in denen ein vollständiges Anmeldeverfahren vollzogen wird.

Menschen mit medizinischen Beschwerden, wie dieser Mann, der von Mitarbeitern des italienischen Rote Kreuzes in einer Trage getragen wird, waren die ersten, die die Aquarius in Palermo, Italien, verließen. 13. Oktober 2017
Lorum ipsum dolor.
Kinder lächeln, als sie in Palermo, Italien, von Bord der Aquarius gehen. 13. Oktober 2017.

Von links oben: Menschen mit medizinischen Beschwerden, wie dieser Mann, der von Mitarbeitern des italienischen Rote Kreuzes in einer Trage getragen wird, waren die ersten, die die Aquarius in Palermo, Italien, verließen. 13. Oktober 2017; Eine Somalierin streckt ihren Daumen hoch, während sie in Palermo, Italien, von Bord geht. 13. Oktober 2017; Kinder lächeln, als sie in Palermo, Italien, von Bord der Aquarius gehen. 13. Oktober 2017.

Obwohl sie in Sicherheit waren, haben sie noch einen langen Weg vor sich. Diejenigen, die in Italien Asyl beantragen, haben keine Garantie, die ihnen zustehende rechtliche und psychologische Unterstützung sowie Hilfen zu Intergration zu erhalten. Weniger als die Hälfte wird wahrscheinlich ein Bleiberecht erhalten (inklusive derjenigen, die aufgrund der Misshandlungen in Libyen wegen humanitärer Gründe bleiben). Andere werden Anweisungen erhalten, wieder zu gehen, aber in den meisten Fällen werden sie Teil der stets wachsenden Gruppe von undokumentierten Migranten in Italien oder anderswo in Europa werden und damit besonders anfällig für Ausbeutung sein.

Lösungen finden

Es ist leicht, sich von der intensiven Freude der Geretteten mitreißen zu lassen und betroffen von ihrem Leiden zu Hause und unterwegs zu sein. Es ist schwieriger, Lösungen zu finden, die innenpolitische Themen, einwanderfeindliche Stimmungen in Europa und die Logik der internationalen Beziehungen berücksichtigen. Ich glaube, dass die Prämisse der Menschenrechte - Respekt vor der Würde jedes Menschen – nützlich sein kann, um den Weg zu weisen.

Leben auf See zu retten und dafür zu sorgen, dass Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden, muss oberste Priorität haben. Nichtregierungsorganisationen, die wichtige Arbeit leisten, sollten unterstützt und nicht eingeschränkt werden. Ich habe aus erster Hand gesehen, wie die Italiener weiterhin Menschen professionell retten und in Sicherheit bringen. Italien kann dies nicht alleine tun; der Rest Europas muss helfen.

Zum Anhören anklicken

Audio icon

Judith Sunderland

Associate Director, Abteilung Europe und Zentralasien, Human Rights Watch

Die Rettungskräfte und Mitarbeiter des Teams für humanitäre Hilfe der Aquarius gedenken der Lampedusa Tragödie von 2013, bei der mindestens 368 Menschen ums Leben kamen, als ihr Boot Feuer fing und vor der italienischen Insel im zentralen Mittelmer zerbrach. 3. Oktober 2017.


Jetzt ist nicht der Moment, den libyschen Einsatzkräften mehr Verantwortung für Search und Rescue zu übertragen, das Risiko von Missbrauch auf See und an Land ist zu hoch. Europa sollte eine größere Verantwortung für die Rettung von Menschenleben im zentralen Mittelmeerraum übernehmen. Die Ausbildung libyscher Küstenwachtruppen ist eine langfristige Anstrengung, die sorgfältig überwacht werden sollte, damit sie messbare, positive Auswirkungen hat und nicht einfach ein Vorwand ist, um Menschen in fast definitives Leid zurückzuschicken.

Menschen dabei zu helfen, sicher nach Europa zu gelangen, muss ein größerer Teil der Antwort sein. Hanan, ein syrischer Flüchtling, der ich an Bord der Aquarius begegnete, suchte vergeblich nach legalen Wegen, bevor sie gemeinsam mit ihrem Mann, ihrer sechsjährigen Tochter und acht weiteren Verwandten in einem Holzboot aufbrach. Wir haben versucht, Visa für Deutschland zu bekommen, weil wir alle enge Verwandte dort haben. Aber sie wurden abgelehnt. Wir haben sogar versucht, in die Türkei zu gehen, um dort zu leben. Aber auch dort wurden wir abgelehnt. Meine Familie hat versucht, Visa nach Tunis zu bekommen, um Libyen zu verlassen und in einem anderen arabischen Land zu leben ... Aber wieder wurden wir abgelehnt. Wir haben versucht, in den Sudan zu gehen. Aber auch hier wurden wir abgelehnt ... Wir haben kein anderes Land gefunden, in das wir gehen konnten, und wir können nicht nach Syrien zurückkehren.

Bei Hanans erstem Versuch, im Jahr 2014, ertranken ihr Bruder und ihre Nichte. Seitdem lebten sie in Zuwara, beschlossen aber die Reise wieder zu riskieren, nachdem Hanans 16-jähriger Neffe angegriffen und siebenmal auf ihn eingestochen worden war.

Es ist inakzeptabel, Menschen zurück in die Gewalt in Libyen zu bringen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten zeigen, dass das Geld, das sie in Libyen ausgeben, das Leben der dort lebenden Migranten verbessert. Die Priorität sollte darin bestehen, die Menschen von willkürlicher Inhaftierung und Misshandlung zu erlösen und den Bedürftigsten zu helfen, sich in Ländern niederzulassen, die sie schützen können, und anderen dabei zu helfen, sicher und menschenwürdig nach Hause zurückzukehren.

Wir können mehr tun, um Menschen zu helfen, diese gefährlichen Reisen zu vermeiden. Wir können Krieg, Verfolgung, Ungerechtigkeit und Missbrauch, die Gründe die Leute dazu bewegen ihre Heimat zu verlassen, nicht schnell lösen. Doch wir können sichere, legale Wege für Menschen auf der Flucht schaffen.

Hören Sie sich die gesamten Aufzeichnung von Judith Sunderlands Zeit an Bord der Aquarius an

sound-icon-small An Bord
4' 05"

sound-icon-smallLibysche Gefangene
4' 00"

sound-icon-smallRettungseinätze
7' 03"

sound-icon-small Nach Italien
8' 40"