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A male resident is chained to a wooden platform bed at the Bina Lestari healing center in Brebes, Central Java. The chain is so short that it does not allow him to move around and he is forced to eat, sleep, and urinate in this room. © 2016 Andrea Star Reese for Human Rights Watch 

(Jakarta, 21. März 2016) – In Indonesien werden Menschen mit psychosozialen Behinderungen häufig festgekettet oder sie werden unter Zang in Einrichtungen eingewiesen, wo ihnen Misshandlung droht, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 74-seitige Bericht „Living in Hell: Abuses against People with Psychosocial Disabilities in Indonesia ” zeigt, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig angekettet oder in überfüllten Einrichtungen in unhygienischen Verhältnissen eingesperrt werden. Dies geschieht ohne die Einwilligung der Betroffenen. Grund hierfür ist die Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen und das fehlende Angebot von angemessenen Hilfsdiensten oder psychiatrischer Gesundheitsfürsorge vor Ort. In den Einrichtungen drohen den Betroffenen physische und sexuelle Gewalt, Zwangsbehandlung, wie etwa Elektroschocks, Isolation, Verbote und Zwangsmaßnahmen zur Empfängnisverhütung.

„Menschen mit psychischen Erkrankungen anzuketten, dies ist in Indonesien zwar illegal, dennoch ist es nach wie vor eine weit verbreitete, brutale Praxis” so Kriti Sharma,  Mitarbeiterin in der Abteilung Menschen mit Behinderungen und Autorin des Berichts. „Menschen verbringen Jahre festgekettet in Holzhütten oder Ziegenställen, einfach weil ihre Familien nicht wissen, was sie sonst mit ihnen machen sollen. Und die Regierung bietet ihnen keine vernünftige, humane Alternative.” 

Menschen mit psychischen Erkrankungen anzuketten, dies ist in Indonesien zwar illegal, dennoch ist es nach wie vor eine weit verbreitete, brutale Praxis. Menschen verbringen Jahre festgekettet in Holzhütten oder Ziegenställen, einfach weil ihre Familien nicht wissen, was sie sonst mit ihnen machen sollen. Und die Regierung bietet ihnen keine vernünftige, humane Alternative.
Kriti Sharma

Mitarbeiterin in der Abteilung Menschen mit Behinderungen

Human Rights Watch führte Interviews mit 149 Personen, darunter Erwachsene und Kinder mit psychosozialen Behinderungen, deren Familien, Pflegekräften, anderen Fachleuten auf dem Gebiet psychischer Krankheiten, Leitern von psychiatrischen Einrichtungen, Regierungsbeamten und Aktivisten für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Human Rights Watch besuchte insgesamt 16 Einrichtungen auf den Inseln Java und Sumatra, darunter psychiatrische Kliniken, soziale Pflegeeinrichtungen und religiöse Heilzentren. Human Rights Watch dokumentierte 175 Fälle in fünf Provinzen, in denen Menschen derzeit angekettet oder eingesperrt werden bzw. dies bis vor kurzem Praxis war.

Mehr als 57.000 psychisch erkrankte Menschen werden mindestens einmal in ihrem Leben Opfer des sog. pasung – d.h. sie werden angekettet und eingesperrt. Den neuesten Statistiken der Regierung zufolge sind derzeit etwa 18.800 Menschen angekettet. Obwohl die Regierung diese Praxis 1977 verboten hat, werden Menschen mit psychosozialen Behinderungen nach wie vor von ihren Familien, traditionellen Heilern und Einrichtungpersonal angekettet, manchmal sogar jahrelang.

In einem Fall berichtete der Vater einer Frau mit einer psychosozialen Behinderung Human Rights Watch gegenüber, er habe seine Tochter in einen Raum gesperrt. Zuvor hatte er Rat bei religiösen Heilern gesucht, nachdem seine Tochter die Blumenbeete der Nachbarn zerstört hatte. Als sie versuchte, sich einen Weg aus dem Raum zu graben, fesselten die Eltern ihre Hände hinter ihrem Rücken. Sie blieb nackt auf dem schmutzigen Boden. Ganze 15 Jahre lang aß, schlief und verrichtete sie ihre Notdurft in dem Raum, bevor ihre Eltern sie schließlich freiließen.

Die Regierung Indonesiens hat bereits einige Schritte unternommen, um diese Praxis abzuschaffen. Die Ministerien für Gesundheit und Soziales haben jeweils eine Kampagne gegen das Anketten gestartet. Ein neues Gesetz zu psychischen Erkrankungen sieht vor, die psychiatrische Gesundheitsfürsorge in die medizinische Grundversorgung zu integrieren. Teams von Regierungsbeamten, medizinischem Personal und Personal aus öffentlichen Einrichtungen haben die Aufgabe, die Betroffenen von ihren Ketten zu befreien. Da die Regierung Indonesiens jedoch teils stark dezentralisiert ist, erfolgt die Umsetzung des Gesetzes und der Aufgaben auf lokaler Ebene nur sehr langsam.

Indonesien hat 250 Millionen Einwohner, jedoch nur zwischen 600 und 800 Psychiater. Somit kommt nur ein Psychiater auf 300.000 bis 400.000 Menschen. Es gibt lediglich 48 psychiatrische Kliniken, mehr als die Hälfte davon befinden sich in nur vier der 34 indonesischen Provinzen. Von der Regierung erhobene Daten zeigen, dass 2015 nur 1,5 Prozent des Staatsbudgets in den Gesundheitssektor geflossen sind. 90 Prozent jener Menschen, die eine medizinische Versorgung wünschen, erhalten diese nicht, da es kein ausreichendes Angebot gibt. Die Regierung hat vor, bis 2019 eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, auch für psychische Erkrankungen, einzuführen. 

In den wenigen Einrichtungen und Diensten, die es gibt, werden die Grundrechte von Menschen mit psychosozialen Behinderungen häufig nicht respektiert. Somit tragen sie zu Menschenrechtsverletzungen bei, so das Fazit von Human Rights Watch. „Stellen Sie sich vor, Sie leben in der Hölle. Genauso ist das hier“, sagte Asmirah, eine 22-jährige Frau mit einer psychosozialen Behinderung, über ein religiöses Heilzentrum in Brebes, in dem sie gegen ihren Willen lebte.

Das Gesetz in Indonesien macht es ziemlich leicht, einen Menschen mit einer psychosozialen Behinderung zwangseinweisen zu lassen. Human Rights Watch erfuhr von 65 Fällen von Zwangseinweisungen in Einrichtungen. Keine der Personen, mit denen Human Rights Watch Interviews in Einrichtungen führte, befand sich freiwillig dort. Bei denen am längsten währenden Fällen, die Human Rights Watch dokumentierte, handelte es sich um sieben Jahre in einer sozialen Pflegeeinrichtung und 30 Jahre in einer psychiatrischen Klinik.

In einigen Einrichtungen geben die Überfüllung und die hygienischen Bedingungen Anlass zu ernster Sorge. Dort sind Läuse und Krätze weit verbreitet. In Pantri Laras 2, einer sozialen Pflegeeinrichtung in einem Vorort der Hauptstadt Jakarta, wurde Human Rights Watch Zeuge davon, wie etwa 90 Frauen in einem Raum lebten, der eigentlich nur Platz für maximal 30 bietet.

„In vielen dieser Einrichtungen herrschen katastrophale Zustände bei der Körperpflege der Patienten, einfach weil diese nicht raus oder baden dürfen”, so Sharma. „Häufig werden Menschen gezwungen, an ein und demselben Ort zu schlafen, zu essen und ihre Notdurft zu verrichten.“

In 13 der 16 Einrichtungen, die Human Rights Watch besucht hat, wurden Menschen regelmäßig zur Medikamenteneinnahme gezwungen. Zudem wurden sie häufig alternativen „Behandlungen“ unterzogen. So werden ihnen etwa „magische“ Kräutertinkturen verabreicht, kräftige Massage durch traditionelle Heiler oder ihnen werden Koranzitate ins Ohr gesprochen. In drei der sechs  psychiatrischen Kliniken, die Human Rights Watch besuchte, wurde der Einsatz der Elektrokrampftherapie ohne Betäubung und ohne Zustimmung der Betroffenen dokumentiert. In einer dieser Kliniken wurden sogar Kinder dieser Therapie unterzogen.

Zudem ist Zwangsisolation eine häufig angewandte Praxis, die auch als Strafe eingesetzt wird, falls Anweisungen nicht befolgt werden, es zu Konflikten oder sexuellen Handlungen kommt.

Human Rights Watch hat Fälle von physischer und sexueller Gewalt dokumentiert. In sieben der Einrichtungen, die Human Rights Watch besucht hat, konnte das männliche Personal jederzeit ungehindert den Bereich der weiblichen Patienten betreten bzw. war sogar für diesen Bereich verantwortlich. Somit sind Mädchen und Frauen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer sexueller Gewalt zu werden. In Heilzentren waren Männer und Frauen nebeneinander angekettet, sodass Frauen keine Fluchtmöglichkeit hatten, wenn sie Opfer sexueller Gewalt wurden. Zudem verabreichte das Personal in drei Einrichtungen Frauen ohne ihr Wissen oder ihr Einverständnis Mittel zur Empfängnisverhütung.

Die Regierung Indonesiens soll unverzüglich alle öffentlichen und privaten Einrichtungen untersuchen und diese dann regelmäßig kontrollieren. Gegen jene Einrichtungen, in denen Menschen mit psychosozialen Behinderungen angekettet oder misshandelt werden, soll die Regierung unverzüglich vorgehen. Zudem soll Indonesien Maßnahmen einleiten, mittels derer sichergestellt wird, dass Menschen mit psychosozialen Behinderungen über ihr Leben selbst bestimmen können und keine Behandlung ohne ihre Einverständniserklärung erfolgen darf.

Die Regierung soll das entsprechende Gesetz von 2014, den sog. Mental Health Act dahingehend ändern, dass Menschen mit psychosozialen Behinderungen dieselben Rechte erhalten wie alle anderen indonesischen Bürger. Zudem soll die Regierung den Gesetzentwurf zu Menschen mit Behinderungen ändern und verabschieden, sodass die indonesische Gesetzgebung mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen im Einklang steht. Indonesien hat dieses UN-Abkommen 2011 ratifiziert.

Die Regierung soll Unterstützung vor Ort bereitstellen, die freiwillig von den Betroffenen in Anspruch genommen werden kann. Zudem sollen Dienstleistungen für psychische Gesundheit in Zusammenarbeit mit den Betroffenen selbst entwickelt werden. Gleiches gilt für Schulungen von Personal in dem Bereich, von Krankenschwestern bis zu Psychiatern, so Human Rights Watch.

„Der Gedanke, dass ein Mensch 15 Jahre lang in einen Raum gesperrt wird und dort in seinen eigenen Exkrementen und seinem Urin sitzt, isoliert und ohne irgendwelche Pflege, ist einfach nur grauenvoll”, so Sharma. „So viele Menschen haben mir gesagt. ‚Das ist wie ein Leben in der Hölle.‘ Und das ist es wirklich.”

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