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Geiselnahmen durch Hamas und Islamischer Dschihad sind Kriegsverbrechen

Geiseln in Gaza menschlich behandeln und freilassen; kein Einsatz als menschliche Schutzschilde

Fotos von Israelis, die am 7. Oktober bei dem von der Hamas geführten Angriff als Geiseln verschleppt wurden. Die Bilder wurden bei einer Demonstration für die Freilassung der Geiseln am 17. Okotber 2023 auβerhalb der HaKirya-Militärbasis in Tel Aviv aufgehängt. © 2023 Kobi Wolf/Bloomberg via Getty Images

Aktualisierung, 20. Oktober 2023: Israel hat die Freilassung von zwei Geiseln, Judith Tai Raanan und Natalie Shoshana Raana, Mutter und Tochter, beide Staatsbürgerinnen der Vereinigten Staaten, bestätigt. Die Hamas und der Islamische Dschihad sollen alle anderen zivilen Geiseln unverzüglich, bedingungslos und wohlbehalten freilassen

  • Hamas und Islamischer Dschihad halten viele Israelis sowie weitere Personen als Geiseln in Gaza fest und wollen sie nur im Gegenzug für die Freilassung palästinensischer Gefangener in Israel freilassen. Damit verüben sie Kriegsverbrechen. 
  • Zivilist*innen, einschließlich Kinder, älterer Menschen und Personen mit Behinderung, sollen niemals als Verhandlungsmasse dienen. Es gibt keine Situation, die Geiselnahmen rechtfertigt.
  • Bewaffnete Gruppen sollen alle festgehaltenen Zivilist*innen sofort und unter Gewährleistung ihrer Sicherheit freilassen. Regierungen mit Einfluss auf die Hamas sollen einfordern, dass die Geiseln menschlich behandelt und freigelassen werden.

(Jerusalem) – Hamas und Islamischer Dschihad begehen Kriegsverbrechen, indem sie viele Israelis und weitere Personen als Geiseln in Gaza festhalten, so Human Rights Watch. Es gibt keine Situation, die Geiselnahmen rechtfertigt. Die Gruppen sollen alle festgehaltenen Zivilist*innen sofort und unter Gewährleistung ihrer Sicherheit freilassen.

Am 19. Oktober 2023 gaben israelische Behörden bekannt, dass mindestens 203 Geiseln in Gaza festgehalten würden. Am 16. Oktober hatte der bewaffnete Arm der Hamas erklärt, etwa 200 Menschen als Geiseln zu halten und dass auch andere palästinensische Gruppierungen Personen festhalten würden. Der islamische Dschihad behauptet, 30 Geiseln in seiner Gewalt zu haben. Darüber hinaus hält der bewaffnete Arm der Hamas seit beinahe einem Jahrzehnt zwei israelische Zivilisten mit psychosozialen Einschränkungen gefangen.

„Zivilist*innen, einschließlich Kinder, älterer Menschen und Personen mit Behinderung, dürfen niemals als Verhandlungsmasse dienen“, sagte Lama Fakih, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Regierungen mit Einfluss auf die Hamas, einschließlich Katar, Ägypten und die Türkei, sollten einfordern, dass die Geiseln so bald wie möglich freigelassen und bis dahin menschlich behandelt werden.“

Die festgehaltenen Menschen wurden am 7. Oktober als Geiseln genommen, nachdem palästinensische Kämpfer den Grenzzaun zwischen Israel und Gaza durchbrochen hatten. Bei dieser Operation wurden laut Angaben der israelischen Regierung mehr als 1.400 Menschen getötet, darunter Hunderte Zivilist*innen. In einer aufgezeichneten Nachricht vom 9. Oktober drohte der bewaffnete Arm der Hamas damit, die Geiseln öffentlich hinzurichten.

Die Hamas verkündete, die Geiseln erst dann freilassen zu wollen, wenn Israel die Bombardierung von Gaza einstellt und 5.000 palästinensische Gefangene freilässt, die sich in israelischer Haft befinden, darunter auch Kinder und Frauen.

Der Islamische Dschihad verkündete ebenfalls, seine Geiseln nur im Gegenzug zur Freilassung palästinensischer Gefangener freizugeben. Bislang unbestätigten Angaben dieser Gruppierung zufolge wurden 22 Geiseln bei israelischen Luftangriffen in Gaza getötet. Laut Daten des israelischen Strafvollzugsdienstes befanden sich Stand 1. Oktober insgesamt 5.192 Palästinenser*innen aufgrund „sicherheitsrelevanter“ Vergehen in israelischen Gefängnissen, 1.319 davon ohne Anklage oder Prozess in Untersuchungshaft.

Zu den Geiseln gehören Männer, Frauen und Kinder; mindestens eine Person hat eine Behinderung. Manche sind Angehörige des israelischen Militärs. Laut Medienberichten sowie von Human Rights Watch durchgeführten Interviews sind unter den Geiseln auch Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sowie ausländische Staatsangehörige, darunter aus Mexiko, den Vereinigten Staaten und Deutschland. Es könnten auch mindestens acht in Israel lebende palästinensische Beduin*innen darunter sein.

In den Tagen nach den Angriffen vom 7. Oktober sprach Human Rights Watch mit sechs Familienmitgliedern von zehn aktuell vermissten Personen. Alle sagten, dass ihre vermissten Angehörigen Zivilist*innen seien, darunter Kinder, ältere Menschen sowie Eltern von Kleinkindern. Das israelische Militär informierte zwei dieser Familien darüber, dass ihre (insgesamt vier) Verwandten als Geiseln in Gaza festgehalten würden.

Die Familienangehörigen der Geiseln gehen davon aus, dass palästinensische Kämpfer ihre Verwandten aus verschiedenen ländlichen Siedlungen, sogenannten Kibbuzim, im Süden Israels verschleppt haben, darunter Nir Oz, Nahal Oz und Holit sowie von einem Musikfestival nahe des Kibbuzes Re’im. Mitglieder anderer Kibbuzim, darunter Be‘eri, berichteten zudem, dass Dutzende weiterer Menschen aus der Gemeinschaft noch vermisst und vermutlich als Geiseln gehalten würden. Manche der Kibbuzim befinden sich weniger als einen Kilometer von Gaza entfernt.

Verschiedene Nachrichtenorganisationen haben dokumentiert, wie Menschen aus Israel nach Gaza verschleppt wurden. Die Washington Post versuchte, auf Grundlage von Bildmaterial das Schicksal von 64 Menschen nachzuvollziehen, die palästinensische Kämpfer am 7. Oktober aus Israel nach Gaza verschleppten. Scheinbar sind 49 von ihnen Zivilist*innen – darunter 9 Kinder –, 11 israelische Militärangehörige und bei 4 von ihnen bleibt der Status als Zivilist*innen unklar.

Human Rights Watch prüfte ein auf Social Media gepostetes Video, in dem vier Arabisch sprechende Männer zu sehen sind, die offenbar eine junge Frau auf einem Motorrad verschleppen, etwa vier Kilometer vom Ort des Festivals im Süden Israels entfernt und nahe Gaza. Die Frau, die von ihrer Familie in Medieninterviews als die 26-jährige Noa Argamani identifiziert wurde, ruft „Nein, tötet mich nicht“, während andere Männer einen Mann wegführen, der als ihr Partner Avinatan Or identifiziert wurde und die Hände hinter dem Rücken hat. In einem weiteren Social-Media-Video vom 7. Oktober ist Argamani lebend zu sehen. Offenbar wird sie in Gaza festgehalten.

Doch die Hamas-Kämpfer, die an der Offensive beteiligt waren, nahmen nicht nur Geiseln, sondern massakrierten auch Hunderte Zivilist*innen, darunter auch Kinder. Auf dem Gelände des Musikfestivals „Supernova Sukkot Gathering“ schossen sie wahllos in die Menschenmenge und töteten nach Angaben von Zaka Search and Rescue, dem israelischen Rettungsdienst, mindestens 260 Menschen. Die Angreifer drangen auch in Häuser in Siedlungen an der Grenze zu Gaza ein und töteten Zivilist*innen. Bewaffnete palästinensische Gruppen haben Tausende Raketen auf israelische Wohngebiete abgefeuert. Im Süden Israels sind Tausende Menschen vertrieben worden.

Dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge wurde seit dem Beginn des schweren Bombardements Gazas durch Israel am 7. Oktober mehr als 3.785 Menschen getötet, darunter 1.524 Kinder, 1.000 Frauen und 120 ältere Menschen; etwa eine Million Menschen wurde vertrieben. Israelische Behörden haben die Strom-, Wasser- und Internetversorgung sowie die Lieferung von Nahrungsmitteln in Gaza blockiert und verstoßen damit gegen das humanitäre Völkerrecht, das eine kollektive Bestrafung verbietet. Des Weiteren weigern sich die Behörden, Zivilist*innen lebenswichtige Güter bereitzustellen, etwa Medikamente. Dies verschärft die ohnehin schon verheerende humanitäre Lage nach mehr als 16 Jahren israelischer Blockade.

Geiselnahmen sind sowohl gemäß des gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Konventionen verboten, der auf den bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der Hamas, dem islamischen Dschihad sowie anderen bewaffneten palästinensischen Gruppierungen anwendbar ist, als auch nach Artikel 34 der 4. Genfer Konvention, die Menschen in besetzten Gebieten schützt.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz definiert Geiselnahmen in seinem Kommentar von 2016 zum gemeinsamen Artikel 3 als „das Ergreifen, die Inhaftierung oder anderweitiges Festhalten einer Person (die Geisel) einhergehend mit einer Drohung, diese Person zu töten, zu verletzen oder weiterhin festzuhalten, um eine dritte Partei dazu zu bewegen, etwas zu tun oder von einem Vorhaben Abstand zu nehmen, als explizite oder implizite Bedingung für die Freilassung, die Sicherheit oder das Wohlergehen der Geisel“. Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) definiert Geiselnahmen in ähnlicher Weise als Kriegsverbrechen.

Geiselnahmen stehen auch in Verbindung zu anderen Kriegsverbrechen, etwa festgehaltene Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde einzusetzen, Geiseln grausam zu behandeln und ihnen Gewalt anzudrohen sowie die oben genannte kollektive Bestrafung. Der gemeinsame Artikel 3 führt darüber hinaus aus, dass jede in Gewahrsam einer Konfliktpartei geratene Person „unter allen Umständen menschlich zu behandeln ist“ und vor „Gewalt gegen das Leben und die Person“ zu schützen ist und dass „Verwundete und Kranke […] gepflegt werden [sollen]“. Das humanitäre Gewohnheitsrecht sieht des Weiteren vor, dass Personen, die ihrer Freiheit beraubt worden sind, mit ihren Familien kommunizieren dürfen.

Auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv am 14. Oktober mit Familienangehörigen von Geiseln und Vermissten forderten Vertreter*innen der Familien die sofortige Versorgung der Geiseln mit lebenswichtigen Medikamenten: „Unsere Angehörigen […] benötigen lebenswichtige Medikamente. Ohne diese Medikamente werden sie nicht überleben. Die Zeit rennt davon.“ Vertreter*innen der Familien zeigten sich bei der Pressekonferenz über den Gesundheitszustand ihrer Verwandten auch im Hinblick auf chronische Erkrankungen sowie auf Verletzungen besorgt, die sie beim Angriff der Hamas erlitten haben.

Adva Gutman-Tirosh sprach von ihrer Schwester, der 27-jährigen Tamara, die vom Festival aus entführt wurde. „Tamara leidet unter Morbus Crohn“, sagte Adva. „Ohne ihre Medikamente und medizinische Behandlungen könnte sie sterben.“

Als Länder, die regelmäßig in Austausch mit der Hamas stehen und Einfluss auf diese haben, sollten Katar, die Türkei und Ägypten auf die sofortige Freilassung der in Gaza festgehaltenen Geiseln drängen, sagte Human Rights Watch.

Jene, die die Geiselnahmen befohlen oder durchgeführt haben oder noch Geiseln festhalten, können strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Darüber hinaus können Kommandeure von Hamas und Islamischem Dschihad im Rahmen der „Befehlsverantwortung“ verfolgt werden, wenn sie von Verbrechen wussten oder hätten wissen müssen, die von ihren Untergebenen ausgeübt wurden, und entweder die Verbrechen nicht verhinderten oder die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zogen.

„Geiselnahmen, menschliche Schutzschilde sowie die Drohung, Menschen im Gewahrsam zu töten, sind Kriegsverbrechen“, sagte Fakih. „Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat bereits bekundet, dass er ein Mandat zur Untersuchung dieser Vergehen hat.“

Correction

Aktualisierung am 25.10.2023: Diese Pressemitteilung wurde aktualisiert, um die korrekte Schreibweise des Namens von Adva Gutman-Tirosh wiederzugeben.

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