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(Brüssel) – Viele Kinder aus Kriegsgebieten fliehen, oft alleine, vor Misshandlung in ihren Heimatländern in die Europäische Union, so Human Rights Watch. Sie suchen oft Schutz vor der Rekrutierung als Kindersoldaten, vor Zwangsheirat oder nach Angriffen auf Schulen und andere Bildungseinrichtungen. Andere fliehen vor den Folgen der Kriege in Syrien und Afghanistan oder vor Diskriminierung, der afghanische Geflüchtete im Iran ausgesetzt sind.

Eine syrische Frau umarmt ihre Tochter im Hafen auf Kos in Griechenland, nachdem sie von der griechischen Küstenwache am 4. Juni 2015 vor der Küste gerettet und in den Hafen gebracht worden sind. © 2015 Getty Images


Nahc Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), der griechischen Polizei und Küstenwache erreichten im Jahr 2014 mehr als 6.100 minderjährige Asylsuchende und Migranten Griechenland, die Mehrzahl von ihnen auf dem Seeweg. Etwa 1.100 davon wurden als „unbegleitet“ oder „ohne Familienangehörige reisend“ registriert. Die tatsächlichen Zahlen sind wahrscheinlich höher, da viele allein reisende Kinder behaupten, 18 Jahre oder älter zu sein. Nur so können sie der übermäßig langen Inhaftierung entgehen, die ihnen droht, bis die Behörden für sie einen Platz in speziellen Unterkünften für unbegleitete Minderjährige finden.
„Tausende Kinder nehmen lebensgefährliche Reisen auf sich, weil sie glauben, keine andere Wahl zu haben“, so Jo Becker, Expertin für Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Das mindeste, was Nachbarstaaten und die EU sicherstellen müssen, ist, dass die Kinder nach ihrer Ankunft nicht erneut misshandelt und ihrer Rechte beraubt werden.“
„Tausende Kinder nehmen lebensgefährliche Reisen auf sich, weil sie glauben, keine andere Wahl zu haben. Das mindeste, was Nachbarstaaten und die EU sicherstellen müssen, ist, dass die Kinder nach ihrer Ankunft nicht erneut misshandelt und ihrer Rechte beraubt werden.“
Jo Becker

Expertin für Kinderrechte


Im Mai 2015 befragte Human Rights Watch mehr als 100 Asylsuchende und Migranten, die vor kurzem auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos angekommen waren. Alle hatten Griechenland im Laufe des vorherigen Monats von der Türkei aus mit Booten erreicht. Die meisten der 41 befragten Kinder stammten aus Syrien und Afghanistan. 24 von ihnen, überwiegend Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren, reisten ohne Familienangehörige.

In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind dem UNHCR zufolge 42.160 Migranten und Asylsuchende über das Meer nach Griechenland eingereist, fast so viele wie im ganzen Jahr 2014. Laut offizieller Daten der griechischen Regierung sind Syrer in diesem Jahr die mit Abstand größte nationale Gruppe, gefolgt von Afghanen. Die Kindersterblichkeit in Afghanistan ist im Jahr 2014 um knapp 50 Prozent gestiegen, berichtet die UN.

Einige der befragten Kinder und Eltern sind geflüchtet, um nicht von den Taliban in Afghanistan oder von anderen bewaffneten Gruppen rekrutiert oder von der syrischen Armee eingezogen zu werden. Hani, ein 17-Jähriger, der alleine aus Idlib im Nordwesten Syriens nach Griechenland reiste, sagt, dass er dem Kriegsdienst entgehen wollte: „Vielleicht bleibst du in der Armee, bis du stirbst oder bis der Krieg zu Ende ist“, sagte er.

Ein afghanischer Jugendlicher ruht sich am Hafen von Lesbos aus. Er lief 30 Stunden lang von dem Ort, wo sein Boot angekommen war. © 2015 Jo Becker/Human Rights Watch


Viele Kinder und ihre Familien sind nach Anschlägen auf Schulen geflohen oder auf Grund anderer Umstände, die den Zugang zu Bildung versperren. Die Organisation Save the Children geht davon aus, dass seit Kriegsbeginn im Jahr 2011 3.465 Schulen in Syrien teilweise oder vollständig zerstört wurden.

Vierzehn der befragten Minderjährigen stammten aus Afghanistan und sind aus dem Iran geflohen. Dort wird neu ankommenden Afghanen systematisch das Recht verwehrt, einen Asylantrag zu stellen oder sich als Flüchtlinge registrieren zu lassen. Viele durften nicht zur Schule gehen oder konnten die Gebühren nicht bezahlen und gerieten so in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse.

Zwei Familien flüchteten aus Afghanistan, um zu verhindern, dass ihre Kinder verheiratet werden. Ein afghanisches Paar, das im April 2015 aus Herat geflohen ist, berichtete, dass ein 65 Jahre alter Mann mit Verbindungen zu den Taliban um die Hand ihrer 10-jährigen Tochter anhielt. „Wenn wir abgelehnt hätten, hätten sie uns umgebracht“, sagt die Mutter. „Wir sind in derselben Nacht geflohen.“

Einige Kinder entschieden selbst, ihre Heimat zu verlassen und wurden dabei von ihrer Familie unterstützt. Typischerweise bezahlten die Minderjährigen oder ihre Familien Schlepper mit erspartem oder geliehenem Geld. Die Familien mancher Kinder verkauften ihr Haus, um ihre Reise zu finanzieren.

Auf Kos schlafen Kinder und Erwachsene in Zelten, die von Ärzte ohne Grenzen zur Verfügung gestellt werden. Sie warten darauf, dass sie weitergeleitet werden, was bis zu drei Wochen oder sogar länger dauern kann.   . © 2015 Jo Becker/Human Rights Watch


Kinder nehmen lebensgefährliche Reisen auf sich, um nach Griechenland zu gelangen. Einige Afghanen schilderten, dass sie 12 bis 14 Stunden lang durch hüfthohen Schnee über ein Gebirge gewandert sind, um die iranisch-türkische Grenze zu überqueren. Unterwegs wurden sie von der iranischen Grenzpolizei beschossen. Für viele war der beschwerlichste Teil ihrer Reise, das Ägäische Meer in überfüllten Schlauchbooten zu überqueren. Für die Überfahrt mussten sie den Schleppern zwischen 700 und 1.800 Euro pro Person zahlen.

Nach ihrer Ankunft in Griechenland können unbegleitete Minderjährige deutlich länger inhaftiert werden als Erwachsene, während die Behörden nach einem Platz für sie in griechischen Einrichtungen für Kinder suchen. Obwohl diese Heime dazu dienen sollen, die Kinder zu schützen, erleben viele von ihnen die lange Haft als Strafe. Daher behaupteten sie, 18 oder 19 Jahre alt zu sein, um entlassen zu werden und ihre Reise nach Athen oder in andere EU-Staaten fortsetzen zu können.

Eine syrische Familie sitzt im Hafen auf Kos in Griechenland, nachdem sie von der griechischen Küstenwache am 4. Juni 2015 vor der Küste gerettet und in den Hafen gebracht worden ist.   © 2015 Getty Images


Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Inhaftierung von Minderjährigen auf Grund ihres Aufenthaltsstatus‘ immer eine Verletzung ihrer Rechte darstellt, und hat alle Länder aufgefordert, solche Praktiken „schnell und vollständig abzuschaffen“.

Griechenland soll angemessene Aufnahmebedingungen auf den Inseln schaffen und dabei insbesondere die Bedürfnisse von Kindern und das Kindeswohl berücksichtigen, auch mit Blick auf allein reisende Minderjährige. Entsprechend der Empfehlungen des Ausschusses für die Rechte des Kindes sollen die griechischen Behörden die Anträge von Familien mit Kindern und unbegleiteten Kindern schneller bearbeiten und vermeiden, Minderjährige zu inhaftieren.

Die griechische Regierung soll genügen Heimplätze für unbegleitete Kinder zur Verfügung stellen, um die Haftzeit vor dem Umzug in ein Heim so weit wie möglich zu begrenzen. Die EU soll Griechenland finanziell dabei unterstützen, dieses Ziel zu erreichen. Die EU-Mitgliedstaaten sollen die Vorschläge unterstützen, Griechenland zu entlasten. Sie sollen Menschen aufnehmen, die Anspruch auf internationalen Schutz haben, und gewährleisten, dass ein solches Aufnahmeprogramm das Wohl der Kinder berücksichtigt, die in Begleitung ihrer Familie oder alleine geflüchtet sind. Alle Maßnahmen, die sichere und legale Wege in die EU fördern, sollen die besonderen Bedürfnisse minderjähriger Asylsuchender und Migranten mitbedenken.

Die Regierungen von Syrien und Afghanistan sollen Minderjährige vor Menschenrechtsverletzungen in bewaffneten Konflikten oder durch andere Praktiken wie Kinderehe schützen. Die iranische Regierung soll das Recht afghanischer Kinder auf Bildung achten und Maßnahmen ergreifen, um ausbeuterische Kinderarbeit und Polizeigewalt zu beenden. Geberländer sollen bessere Systeme zum Schutz von Kindern in deren Herkunftsländern fördern sowie in Ländern, in denen große Zahlen geflüchteter Menschen leben.

„Kinder, die dazu gezwungen sind, vor Misshandlungen oder Lebensgefahr zu fliehen und die auf ihren Wegen noch größeren Gefahren ausgesetzt sind, dürfen nicht erneut misshandelt und vernachlässigt werden, wenn sie in Europa ankommen“, so Becker. „Ihre eigenen Länder, die Länder, in denen sie ankommen, und andere müssen viel mehr tun, um diese Kinder zu schützen und ihnen zu helfen.“
 

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